Am 24. April ist es soweit: Nach dem erfolgreichen Auftakt ihrer Konzertreihe The Beethoven Experience an der Berliner Philharmonie im vergangenen November sind Jan Caeyers und sein internationales Beethoven-Orchester Le Concert Olympique erneut in Berlin zu Gast. Der Abend mit François-Frédéric Guy am Klavier ist Teil einer Tournee mit acht Konzerten in Belgien und Deutschland. Das Programm rund um Beethovens Eroica geht der Frage auf den Grund, was das sogenannte „Prometheus-Thema“ für Beethovens Schaffen in dieser Zeit für eine Bedeutung hat. Schon vorab erläutert Jan Caeyers die Besonderheiten von Beethovens Beschäftigung mit der Figur des Prometheus:
Die etwas unbekanntere Prometheus Musik ist für das Verständnis des Beethoven‘schen Schaffens von großer Bedeutung, da sie in mehrfacher Hinsicht die Stellung eines Schlüsselwerkes einnimmt. Beethoven hat sich zwischen 1801 und 1804 intensiv mit dem sogenannten „Prometheus-Thema“ beschäftigt. Es kommt in seiner Musik insgesamt vier Mal vor: im Finale der Ballettmusik Die Geschöpfes des Prometheus (op. 43), in den Zwölf Contretänzen (WoO 14), in den Klaviervariationen (op. 35) und schließlich im letzten Satz der Eroica (op. 55). Kein Thema ist so präsent in Beethovens Werk wie dieses, und man kann davon ausgehen, dass diese Bevorzugung mit seiner Sympathie für und Identifikation mit der Prometheus-Figur zusammenhängt.
In den Jahren 1801/1802 erlebte er eine existenzielle Krise, ergreifend dokumentiert im sogenannten „Heiligenstädter Testament“. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich, um sein Schicksal zu bewältigen, zu einem gewissen Grad mit der Prometheus-Figur identifizierte. Beethovens Interesse für das Prometheus-Thema dürfte jedoch auch musikalischen Ursprungs gewesen sein. Im Grunde genommen ist es ein relativ abstraktes Motiv, aber Beethoven interessierten die Möglichkeiten der Verarbeitung und Entfaltung. Er behandelt das Thema wie ein Prisma, das immer wieder das einfallende Licht bricht und phantasievoll streut.
Vielleicht noch wichtiger als die schiere Häufigkeit der Themenverwendung ist die Aufwertung, die dem Prometheus-Thema in verschiedenen Etappen zuteilwurde. Als es im März 1801 in der Ballettmusik Die Geschöpfe des Prometheus zum ersten Mal erscheint, hat es noch die Physiognomie eines normalen, eher banalen Kontratanzes. Beethoven hatte einige Monate zuvor den Auftrag des Wiener Burgtheaters erhalten, gemeinsam mit dem italienischen Star-Choreographen Salvatore Viganò eine Prometheus-Tanzproduktion auf die Beine zu stellen. Ihre Fassung hat jedoch kaum noch etwas mit den Ursprüngen der Prometheus-Sage oder mit dem „Sturm und Drang“ von Goethes berühmtem Gedicht zu tun. Vielmehr hatte vor allem Viganò entschieden, den klassischen Prometheus-Mythos mit den Erzählungen von Apoll und den Musen, von der Macht der Musik und des Tanzes über die Menschen zu verschmelzen. Zur großen Freude des Publikums der Jahrhundertwende wird Prometheus nicht mehr als revoltierender, den Göttern das Feuer stehlender Menschenbefreier dargestellt, sondern als Künstler: Er schafft aus Ton einen Mann und eine Frau und schenkt ihnen mit dem geraubten Feuer das physische Leben. Als er feststellen muss, dass weder Gefühl noch Vernunft in ihnen erwachen, schleift er sie zum Parnass, wo die Musen sie in Künste und Wissenschaften einweihen sollen. So wurde dieses Ballett zu einem großen Loblied auf die Macht des Tanzes und der Musik, nicht zuletzt dank der schönen und expressiven Musik Beethovens.
Bemerkenswert ist, dass Beethoven das Finale für eine Art politischer Positionsbestimmung nutzt. Für den festlichen Schlusstanz, den alle Protagonisten einschließlich Prometheus zusammen aufführen, wählte er eine Folge von Kontratänzen, bei denen das sogenannte Prometheus-Thema als Refrain wiederkehrt. Das hatte etwas zu bedeuten: Der Kontratanz war die kontinentale Variante des englischen Country Dance, der um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert als „demokratischer“ Tanz galt, weil er der einzige war, den Herren und Untertanen zusammen tanzen konnten – ein Symbol für die neue Gesellschaftsordnung, deren Entstehung in der Luft lag. Beethovens Entscheidung, sein Prometheus-Ballett mit einer Reihe von Kontratänzen zu beschließen, bei denen Götter und Menschen zusammen und „auf gleichem Fuß“ tanzen, war damals also ideologisch von einiger Tragweite.
Beethoven schätzte das Refrain-Thema sehr. Er verwendete es ein zweites Mal Ende 1801 für den Contretanz WoO 14 Nr. 7 und einige Monate später als Basis für einen fünfundzwanzigminütigen Klaviervariationen-Zyklus (op. 35). Beethoven war sehr stolz auf diese Neuschöpfung: Er behauptete, sie sei von ihm „auf ganz neue Manier bearbeitet“. Die Tatsache, dass er dem Werk eine offizielle Opus-Zahl gab – was damals für Variationen-Zyklen höchst ungewöhnlich war – unterstreicht dies. In der Beethoven-Literatur ist es daher gang und gäbe, Opus 35 zusammen mit den Klaviersonaten op. 31 und dem Variationen-Zyklus op. 34 als Prototypen des „neuen Wegs“ zu betrachten, als Exponenten der neuen künstlerischen Mission, welcher Beethoven sich nach der Heiligenstädter Krise verschrieben hatte. Es ist wohl kein Zufall, dass Beethoven gerade unter diesen Umständen ein Thema benutzte, mit dem er ein Jahr zuvor den Sieg des Prometheus zum Heil der Menschheit gefeiert hatte.
Ungewöhnlich an diesem Variationen-Zyklus ist vor allem die Art und Weise, wie Beethoven das Thema gestaltet. Es wird nicht als ein Fertiges vorgestellt, sondern vom Grund neu aufgebaut: Nach einem glänzenden, achtstimmigen Fortissimo-Es-Dur-Fermaten-Akkord wird zunächst statt des Themas der Basso del tema exponiert. Dann folgen drei „Vorvariationen“, wobei in verschiedenen Etappen („a due“, „a tre“, „a quattro“) das Bassthema mit sich jeweils steigernder kontrapunktischer Textur bereichert wird, bis das Thema in seiner vollständigen melodischen Gestalt erscheint, woraufhin die eigentlichen Variationen ihren Anfang nehmen. Durch die Tatsache, dass das Thema nicht unmittelbar am Anfang des Werkes erklingt, sondern allmählich aus den vorhergehenden Bassvariationen erwächst, bekommt es Glanz und Glut, und es befreit sich vom „volkstümlichen“ Charakter des Kontratanzes.
Die Aufwertung des Prometheus-Materials geht noch einen Schritt weiter in der letzten – der fünfzehnten – Variation, einem Fugato über die vier Anfangstakte des Bassthemas. Fuge und Fugato gelten von alters her als die Paradebeispiele des gelehrten Stiles und als Ausdruck der Vernunft, des Höchsten, wozu der schöpferische Mensch in der Lage ist. An dieser Stelle der Komposition kann man also nicht anders, als sie als Symbol für die Menschwerdung der Prometheus-Geschöpfe zu verstehen, als Metapher für die Emanzipation des Menschen. Und wenn ganz am Schluss, in der Coda (Andante con moto) das Thema noch einmal in seiner Grundgestalt erscheint, erklingt es als eine feierliche Hymne der Dankbarkeit, als Gebet. Das Werk ist getan, die Aufgabe erfüllt.
Diese Verwandlung des Prometheus-Themas in den Klaviervariationen op. 35 hilft uns, den wahren Sinn des letzten Eroica-Satzes – und der gesamten Eroica-Sinfonie – zu verstehen. In diesem Satz versucht Beethoven zum ersten Male eine Antwort auf die vielleicht wichtigste Herausforderung zu finden, der sich alle Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts würden stellen müssen: die Gestaltung des Schlusssatzes eines großen Orchesterstückes – eine Herausforderung, auf die es einige originelle und ergreifende Antworten gegeben hat (Beethovens Neunte, Brahms‘ Vierte, Mahlers Neunte). Er übernimmt das Grundmuster der Klaviervariationen: Eröffnungsakkord – ausgedehnt auf elf Takte, auf der „dramatisierten“ Dominante – Basso del tema, Vorvariationen, Thema, Variationen (mit Fugato) und festliche Hymne. Aber er tut es ökonomischer und radikaler: Einerseits ist die Zahl der Vorvariationen und Variationen geschrumpft, andererseits gibt es zwei Fugati – das zweite Mal mit dem Bassthema in Umkehrung. Das bedeutet, dass durch die Prominenz der mit der Vernunft assoziierten Passagen in der Musik die Aufwertung dieser Thematik noch zugenommen hat, was wiederum darauf hinweist, dass der Held – wer es auch sein soll – die höchste Stufe der Befreiung und Emanzipation erreicht hat. Solchermaßen wird der Schlusssatz zum philosophischen Kommentar zu den Geschehnissen in den ersten drei Sätzen der Sinfonie.
Natürlich kann man die Eroica als Beethovens größte kompositorische Leistung bis dahin betrachten – man könnte sie sogar als „kompositorische Heldentat“ bezeichnen. Und natürlich hat Beethoven durch die Ausdehnung der Proportionen neue Techniken entwickelt, deren Wert für sich steht. Aber dadurch, dass wir die Sinfonie aus der Perspektive der zwei früher entstandenen Prometheus-Kompositionen hören und die außermusikalische Bedeutung der Aufwertung des Prometheus-Themas besser verstehen, bekommt sie eine noch andere, tiefere Dimension.
Jan Caeyers, März 2018
Mark Andres Oper wunderzaichen, die von einer fiktive Reise des Humanisten Johannes Reuchlin ins heutige Israel handelt, wurde unter der Leitung von Sylvain Cambreling zu einem Publikumserfolg und Höhepunkt der Stuttgarter Opernsaison 2013/2014. Ab dem 13. Mai ist die von Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenierte Produktion, die Genregrenzen zwischen Schauspiel und Oper überschreitet und mittels Live-Elektronik neue Resonanzräume erschließt, als Wiederaufnahme in Stuttgart zu sehen. Die Entstehung des „musikalischen Roadmovies“, an deren Beginn eine akustische Forschungsreise nach Israel stand, wurde von Uli Aumüller für den Dokumentarfilm Ringen um die Gegenwart begleitet; für uns sendete der Dramaturg Patrick Hahn, der das Werk gemeinsam mit dem Komponisten konzipierte, vor der Uraufführung Eindrücke, Gesprächsausschnitte und Gedanken aus dem Prozess.
Für lange Begrüßungen bleibt keine Zeit, als wir am israelischen Flughafen Ben Gurion erstmals in dieser Konstellation aufeinander treffen: Der Komponist Mark Andre, der Toningenieur Joachim Haas vom Freiburger SWR Experimentalstudio, unser israelischer Fahrer David und ich. Es dauert eine Weile, bis die Aufnahmegeräte und die Mikrophone durch den Zoll gewinkt sind, die Straßen sind um diese Tageszeit verstopft, wir müssen rechtzeitig Jerusalem erreichen und die unhandliche Technik durch die verwinkelten Gassen der Altstadt wuchten. Um 19 Uhr schließt sich das Tor der Grabeskirche bis zum nächsten Morgen um 4.30 Uhr. In dieser Nacht werden wir uns gemeinsam mit den Franziskanern, den Armeniern und den griechisch-orthodoxen Fratres in der klammen Kälte der seit Jahrtausenden umkämpften Pilgerstätte einschließen lassen, alle Aufnahmegeräte auf „ein“. Georg Blochmann, der Direktor des Tel Aviver Goethe-Instituts, dem wir die Möglichkeit zu dieser Reise verdanken, hat in einem Akt höherer Diplomatie eine Aufnahmegenehmigung für uns erwirkt: Solange wir die Mönche in ihren heiligen Handlungen damit nicht stören, dürfen wir in dieser Nacht den verwachsenen Körper der Grabeskirche vermessen, ihn unserer Festplatte einverleiben, um so Daten zu sammeln für ein Abenteuer, das erst in einigen Jahren seinen Abschluss finden wird. Willkommen auf dem „metaphysischen Roadtrip“.
Patrick Hahn: Mark, warum hast Du Dich entschlossen, ins „Heilige Land“ zu reisen, um Deine Oper zu komponieren?
Mark Andre: Ich bin hier um akustische Fotos, Echographien zu machen. Nicht zu verwechseln mit Klangpostkarten. Ich sammle unterschiedliche Kategorien von Materialien, sie werden zugeordnet, analysiert und musikalisch entfaltet. Es geht also einerseits um Messungen, die mit Parametrisierung, mit akustischen Darstellungen von Gebäuden, von Klangsituationen zu tun haben. Andererseits geht es um meine Hoffnung, dass diese Räume, diese Situationen eine besondere Ausstrahlung haben – und wir diese einfangen und entfalten können. Es gibt immer etwas, das mit Computerklanganalysen nicht zu erfassen ist. Hier kommt das persönliche innere Erleben ins Spiel.
Schon während unserer ersten Gespräche über sein Opernprojekt hat Mark immer wieder die Metapher vom „metaphysischen Roadtrip“ verwendet, um zu beschreiben, was ihm vorschwebt. Ein Sinnbild für den Weg, den der Komponist selbst beschreitet im Prozess des Komponierens. Ein Hinweis darauf, was die Zuschauer in einigen Jahren erwarten wird, wenn sie sich durch das Stück bewegen. Aber eben auch: nackte Methode. Der Komponist verlässt den heimischen Schreibtisch in Berlin-Friedrichshain, um in der Auseinandersetzung und Begegnung mit einem fremden Ort die Grundlagen für ein neues Stück zu legen.
PH: Wie nimmst Du einen Ort wie die Grabeskirche wahr? Mit den Ohren oder mit anderen Sinnen?
MA: Bestimmt nicht nur mit den Ohren. Es geht mir um die Erfahrung von „Zwischenräumen“. Eine Episode aus dem Johannes-Evangelium kann man als Gleichnis dafür nehmen, eine Szene, die sich unmittelbar an dem Grab, das wir besucht haben, abgespielt haben soll: Maria erkennt Jesus an der Stimme, sie will ihn festhalten, doch er sagt: „Rühr mich nicht an“. Obwohl sie einander nicht berühren, geschieht etwas zwischen ihnen, die Nichtberührung entfaltet einen Zwischenraum. Es geht aus meiner Perspektive um einen vertikalen Raum, der nicht mehr mit einer Chronologie, einer Narration oder einer horizontalen Vision der Zeit zu tun hat. Als kompositorische Idee ist das für mich sehr inspirierend.
Das Geräusch einer Plastiktüte, die sich in einem Gebüsch in der Wüste verfangen hat und nun von Sand, Wind und Sonne zerfetzt wird. Die Gischt des Sees Genezareth im Sturm. Schritte auf Stein, im Wasser, am Strand. Tage auf der Straße, ununterbrochen auf Empfang. Umwege, Fehlschläge, Begegnungen. Mal folgen wir dem Reiseführer, mal der Intuition. Erschöpft erreichen wir nach zehn Tagen wieder den Flughafen Ben Gurion nahe Tel Aviv. Joachim deklariert sein Equipment gerade beim Zoll, als israelische Grenzbeamten Mark und mich aus der Warteschlange winken. Sie befragen uns nach dem Grund unseres Aufenthalts. Mark schildert wahrheitsgemäß, dass die Komposition einer Oper der Zweck seiner Reise war. „Wir haben Aufnahmen gemacht von den Erscheinungsweisen des Heiligen Geistes. Laut der Bibel handelt es sich dabei um Wasser, Wind und Feuer.“ Wir sind verdächtig.
PH: Für viele Komponisten des 20.Jahrhunderts war die Idee der Guckkastenbühne eine Begrenzung – die Architektur eines Opernhauses schien ihnen überkommen, um wirklich neue Stücke zu schreiben. Wie geht es Dir damit?
MA: Über diese Frage sind wir, glaube ich, hinaus. Mir geht es um die intensive Auseinandersetzung mit einem bestehenden Raum und einem bestehenden Apparat und diesen zu transzendieren. Was ich suche, sind Metaräume. Ich habe jetzt nicht mehr das Gefühl, mich in einer ästhetischen, historischen Reflexion über das Musiktheater zu befinden. Mir geht es in meiner Musik darum, eine andere Kategorie von Kraft, von Zeiterlebnis und Präsenz zu erschaffen. Die ästhetische Situation auf der Bühne wird nur ein Ergebnis dieser Suche nach anderen Räumen sein.
In seinen bisherigen Werken hat Mark meist Bibelfragmente, oft nur einzelne Worte, gelegentlich gar nur einzelne Buchstaben als bewusst kryptische Zeichen seiner Musik eingeschrieben: Text als Chiffre und als Trigger für eine ungemein zerbrechliche Musik, die ihre ganze Kraft aus ihrer Instabilität bezieht, ihre Präsenz aus dem Verschwinden. Musik, die in ihren kanonischen Strukturen wohl etwas von der ewigen Ordnung ausdrückt, die hinter den Dingen waltet und durch die akribische Untersuchung der spektralen Natur der Klänge zum Wesen der Erfahrung durchdringt. Musik schließlich, die mit ihrem Nuancenreichtum an Geräuschen und klangfarblichen Verbindungen etwas von der Vielfalt der Beziehungen nachzeichnen möchte, die sich zwischen den Dingen ereignen, die von dieser Welt sind, und jenen, die sie bereits hinter sich gelassen haben.
Johannes: Ein einziger Ohrenzeuge ist mehr wert als zehn Augenzeugen wenn es darum geht, Menschen kennen zu lernen, die der Weisheit zugetan sind.
Johannes Reuchlin begleitet Mark Andre als Gefährte im Geiste, seit die Oper Stuttgart ihm den Auftrag für eine abendfüllende Oper erteilt hatte. „Wie würde Reuchlin heute auf die Welt reagieren? Welche Erfahrungen würde er bei einer Reise nach Israel machen?“, spekuliert er seither. Die Beschäftigung des Komponisten mit Johannes Reuchlin hatte der heutige Chefdramaturg der Oper Stuttgart, Sergio Morabito, initiiert als er 2007 mit Kammermusik von Mark eine „szenische Collage“ über den ersten deutschen Humanisten gestaltete: Johannes Reuchlin, der 1455 in Pforzheim geboren wurde und 1522 in Stuttgart starb. Goethe hat den Juristen und Schriftgelehrten, der in der Leonhardskirche am Rande des kleinen Rotlichtviertels im Herzen von Stuttgart begraben liegt, später ein „Wunderzeichen“ genannt. Wie ein Wunder mutet bis heute an, welche Auseinandersetzungen und Kämpfe Reuchlin durchstanden hat, ohne seine Überzeugung zu verraten: dass die Kenntnis des Hebräischen und das Studium der jüdischen Literatur unerlässlich sei für die Vervollkommnung der geistigen Fähigkeiten des Menschen. Insbesondere interessierte Reuchlin sich für die Geheimnisse der Kabbala, jener mystischen Überlieferung, deren Lehre und Techniken nicht nur zur Auslegung der Heiligen Schrift und zur Erkenntnis der göttlichen Ordnung verhelfen, sondern gar Mittel aufzeigt, darauf einzuwirken. Reuchlin sah sich zu Lebzeiten aufgrund seiner Forschungen und seines Eintretens gegen die Vernichtung jüdischer Bücher durch die katholische Kirche schweren Anfeindungen ausgesetzt, die ihm schließlich gar eine Niederlage vor dem päpstlichen Gericht eingebracht und seiner Karriere schweren Schaden zugefügt haben.
Die schwarz-weißen Ausdrucke der Computeranalysen, mit der zahlenmäßig aufgeschlüsselten Aura der Orte und Klänge, die wir während unserer Reise nach Israel gesammelt haben, liegen verstreut auf dem Flügel in Marks Arbeitszimmer in Berlin-Friedrichshain. Im Januar 2013 fand die erste Chorprobe für wunderzaichen statt. Die Weitergabe der kompositorischen Räume von Mark Andre ist längst im Gange.
13. Mai 2018 (Premiere der Wiederaufnahme), weitere Vorstellungen am 13., 17. und 27. 5. sowie 3. und 10.6.2018
Oper Stuttgart
Mehr über wunderzaichen erfahren Sie im Produktionsblog der Oper Stuttgart.
Patrick Hahn, 12/2013
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Oper Stuttgart
Die Geschichte des Livre pour quatuor beginnt 1948. Ursprünglich auf sechs Sätze angelegt, stellt Pierre Boulez den vierten Satz nie fertig. Er hadert mit dem Stück, fertigt verschiedene Partituren an – das dauert. Zudem beschäftigt er sich bereits mit anderen Stücken und hat eigentlich keine Zeit, das Streichquartett für den Druck oder gar eine Uraufführung vorzubereiten. 1955 werden schließlich die Sätze Ia, Ib und II vom Marschner Quartett in Donaueschingen uraufgeführt. Zum 60. Geburtstag des Komponisten sind 1985 zum ersten Mal alle im Druck erschienen Sätze zusammen zu hören, aufgeführt vom Arditti Quartet. Die Vervollständigung des „Livre” gehört zu den Projekten, die Irvine Arditti über Jahre hinweg verfolgt; sie findet nun durch Philippe Manoury und Jean-Louis Leleu 2018 ein glückliches Ende. Als eine Geschichte über Herausforderungen, Spurensuche und geklaute Koffer schildert Philippe Manoury die Arbeit als musikalischer Rekonstrukteur:
Alles begann mit einem Anruf von Irvine Arditti, der mich fragte, ob ich den vierten Satz von Pierre Boulez‘ Livre pour quatuor (1948/49 komponiert) vervollständigen könnte. Daniel Barenboim hatte er bereits um die Uraufführung im Pierre Boulez Saal in Berlin gebeten. Ich antwortete, dass ich mich mit der Sache genauer beschäftigen müsse um einschätzen zu können, welcher Aufgabe ich mich stellen würde. Boulez hatte sicher seine Gründe, das Projekt nicht weiter zu verfolgen. Seine Gedankengänge und Arbeitsschritte nachzuvollziehen war keine ganz einfache Aufgabe.
Zunächst hatte ich Zugang zu einer mit Füller geschriebenen Partitur. Ein beeindruckendes, dicht beschriebenes Dokument. Auf großen Seiten hatte Boulez einen ersten Entwurf erarbeitet, bestehend aus kompakten Blöcken, die aussahen, als seien sie aus dichtem, unbearbeitetem mineralischen Material. Die vielen Elemente, auf engem Raum gedrängt, sich zum Teil überlappend, ließen mich an Gemälde von Jackson Pollock oder Gerhard Richter denken. Irvine Arditti hatte mich gewarnt: Es gab keine Angaben zu Tempo, Nuancen, Phrasierung, nur Tonhöhen und Rhythmen. Die letzteren waren „unspielbar“ und so war klar, dass erst das bereits Vorhandene in einen spielbaren Zustand gebracht werden musste, bevor überhaupt eine Vervollständigung möglich war. Das Streichquartett entstand etwa zeitgleich mit der Zweiten Klaviersonate, die ich sehr gut kenne, und ich entdeckte hier und da Gemeinsamkeiten. Da ich Boulez‘ Vorliebe für komplexe Ableitungen kannte, war mir schnell bewusst, dass ich eine Reihe von Quellen konsultieren muss um der Sache auf die Spur zu kommen und herauszufinden, wie er zu seinem Material gekommen war. Eine Frage ging mir nicht aus dem Kopf: Wie kann man so viel Musik schreiben ohne die kleinste Angabe zu Tempo, Dynamik, zum Ausdruck im Allgemeinen zu machen? Diese ungeklärte Frage brachte mich zu der Einsicht, dass in diesem Fall meine Intuition keine große Hilfe sein würde. Schließlich reizte mich allerdings das Projekt durch seine schiere Komplexität, und ich rief Irvine Arditti an und sagte ihm, dass ich die Herausforderung annehme.
Ich bat daraufhin Robert Piencikowski um Rat, der als großer Boulez-Spezialist lange bei der Paul Sacher Stiftung in Basel gearbeitet hat, wo die Skizzen und Manuskripte aufbewahrt werden. Er riet mir, den Musikwissenschaftler Jean-Louis Leleu zu kontaktieren, der bereits eine sehr gründliche Studie über das Livre pour quatuor durchgeführt und gerade ein Buch veröffentlicht habe, das die von mir gesuchten Informationen enthalte. Was ich tat. Im Laufe meiner Diskussionen mit Jean-Louis Leleu wurde klar, dass das Vorhaben noch komplexer war, als ich es mir vorgestellt hatte. Dieser vierte Satz – ich begann ihn jetzt wahrzunehmen – war aus den Trümmern der anderen Sätze dieses Quartetts aufgebaut. Ich musste also die anderen Sätze untersuchen, um seinen Sinn zu erfassen. Um ein Beispiel zu geben: Ich musste wissen, dass eine bestimmte Passage dieses Satzes vom Ende des ersten Satzes stammt, aber in einer rhythmischen Umkehrung und mit umgekehrten Instrumentalteilen auftrat. Mir erschien immer mehr, dass Boulez‘ Kompositionsweise zu dieser Zeit den Techniken der Tonbandmontage entlehnt war, die er auf das Schreiben von Musik übertrug. Pierre Boulez würde bald einen hitzigen Aufenthalt in Pierre Schaeffers Experimentalclub verbringen, wo man Tonbänder in Schnipsel schnitt, um sie in einer anderen Reihenfolge wieder aneinanderzukleben. Ein Club, dessen Tür er schnell hinter sich zudonnern und den er als „Flohmarkt der Klänge“ bezeichnen würde. Nichtsdestotrotz gibt es hier eine Annäherung – nicht in der Praxis, aber in der Theorie – zwischen den von Boulez verwendeten Schreibmethoden und jenen Schnitttechniken. Dies ist auch der Grund, warum diese Partitur unspielbar blieb.
Ich kämpfte mich Stück für Stück voran durch das Labyrinth dieses „musikalischen Dschungels“ und begann mit der Rekonstruktionsarbeit, immer gut beraten durch die Erkenntnisse, die Jean-Louis Leleu mit mir teilte und ohne die ich nicht in der Lage gewesen wäre, diese Arbeit in so kurzer Zeit zu bewältigen. Ich hatte ungefähr ein Drittel des Satzes fertig, als mir während einer Zugfahrt mein Koffer mit meinem Manuskript gestohlen wurde. Ich war am Boden zerstört. Fast zwei Monate Arbeit waren für die Katz. Ich musste unbedingt eine Lösung finden, das Verlorene wiederherzustellen, und von all den Ideen, die ich in Betracht zog, brachte eine zu meiner großen Überraschung DIE Lösung. Ich musste alle Skizzen dieses Satzes anschauen! Ich wusste von Leleu, dass es eine Partitur gab, die Boulez selbst geschrieben hatte, um den Satz spielbar zu machen. Ich beschloss, einen Tag in der Sacher-Stiftung zu verbringen, um die Skizzen und Manuskripte dieses Satzes zu studieren. Mir wurde alles gezeigt, was existierte, und zu meiner großen Freude stieß ich schließlich auf die berüchtigte Partitur – die aber leider unvollständig ist! Boulez hatte (vielleicht 1951, laut Leleu) mit der Aufgabe begonnen, an der auch ich gearbeitet hatte, und – Ironie des Schicksals – sie genau dort abgebrochen, wo ich angelangt war, als mein Manuskript gestohlen wurde! Ich konnte also von dort aus weitermachen und diese erste Aufgabe abschließen.
Offen war noch die Frage der Tempi, der Dynamik und Phrasierung. Ich schlug Jean-Louis Leleu vor, dass er die Tempi bestimmen sollte, weil er den Ursprung jedes Elementes dieses Satzes kannte und sich deshalb vorstellen konnte, wie man die damit verbundenen Tempi einrichten sollte. Ich habe dann die Dynamik im Sinne einer polyphonen Klarheit gestaltet, um verschiedene Schichten voneinander unterscheidbar zu machen. Die Intuition hat sich doch noch in dieses Werk hineingeschlichen, ist es doch in der Musik unmöglich, rein durch logisches Schlussfolgern vorzugehen.
Ist diese Rekonstruktion nun so geraten, dass sie Boulez gefallen hätte? Ich erinnere mich an eine Bemerkung, die er mir gegenüber bezüglich Friedrich Cerhas Orchestrierung von Alban Bergs drittem Akt der Lulu machte, eine Orchestrierung, die er manchmal als zu respektvoll den Quellen gegenüber ansah.
So wie ich Pierre Boulez kannte, darf ich hoffen, dass er es doch eher geschätzt hätte, auf welche Weise ich es ihm gegenüber an Respekt fehlen ließ!
Philippe Manoury, März 2018
Er ist herausragender Solist, Kammermusiker, Pädagoge, künstlerischer Leiter, Essayist – und in all diesen Rollen musikalischer Brückenbauer und Partner von Musikern, Komponisten und Künstlern verschiedener Genres: Anssi Karttunen geht als Cellist einen eigenen Weg. Aufgebrochen dazu ist er in Finnland, in einer besonderen Zeit. „In meine Generation hinein geboren zu sein war ein Glücksfall“, erklärt er. „Es gab einen Zeitpunkt, an dem die Fenster zur Welt offener waren als zuvor und wahrscheinlich sogar offener als danach. Ich hatte Gleichgesinnte unter meinen Freunden, die sahen, dass Musiker zu sein viele Dinge umfassen kann und die mehr als nur Solist, Komponist, Dirigent sein wollten.“ Zu diesen finnischen Glückskindern zählen unter anderem Anssi Karttunens Altersgenossen Esa-Pekka Salonen, Magnus Lindberg und Kaija Saariaho, mit denen er sich früh auf Entdeckungsreise machte.
„Es ergab sich ganz selbstverständlich, dass ich die Musik spielte, die meine Freunde schrieben“, erklärt er über den Beginn seiner Beschäftigung mit neuester Musik. Ein Kontinuum gewissermaßen, denn nach wie vor begegnet er vielen der Komponistinnen und Komponisten, deren Werke er zur Uraufführung bringt, auf einer freundschaftlichen Basis, die über die beständige gemeinsame Arbeit gewachsen ist. Auch mehr als 160 Uraufführungen nach seiner Anfangszeit erschließt sich ihm in jedem Stück eine neue Welt. „Für mich ist die Tatsache, dass ich so viele Stücke gespielt habe, nicht per se bedeutsam. Wichtig ist, dass ich auch heute noch dafür sorge, mich jedes Jahr mit etwas ganz Neuem herauszufordern: einen Komponisten, einen Stil zu entdecken, den ich noch nicht kenne.“ Zu völliger Beliebigkeit führt diese Offenheit allerdings keineswegs. „Wir haben alle unseren Geschmack, unsere Limits, und ich will nicht so tun, als sei ich offener als andere. Ich schließe nur keine Tür, ehe ich nicht den Raum dahinter gesehen habe. Wenn er mir nicht entspricht, dann versuche ich auch nicht, mich hineinzuquetschen. Durch dieses Ausprobieren erschafft man seinen eigenen, unverwechselbaren Weg mit all seinen kleinen Abzweigen und Umwegen, der Teil der Identität wird.“
Ganz offensichtlich sucht und findet Anssi Karttunen diese neuen Räume durch ungewöhnliche Projekte wie sein Trio Tres Coyotes mit Magnus Lindberg und Led-Zeppelin-Legende John Paul Jones oder durch Uraufführungen – momentan stehen beispielsweise Stücke von Thierry Pécou und Benoît Mernier auf dem Übeplan, die er beim Pariser Festival Présences aus der Taufe hebt; ein Arbeitstreffen mit Betsy Jolas zu ihrem neuen Cellokonzert ist für den Nachmittag angesetzt, und die Liste weiterer geplanter Uraufführungen ist lang. Gleichermaßen bezieht er seine Suche nach unentdeckten Territorien aber auch auf Musik, die er schon lange kennt: „Vor Kurzem habe ich zum Beispiel Repertoire geübt, das ich seit über 30 Jahren spiele: das Schumann- und das Dvořák-Konzert. Ich versuche, das Vokabular, das mir vielleicht schon zu selbstverständlich erschien, ganz neu zu lernen. Ohne alte Gewohnheiten und Vorurteile wirken diese Stücke frisch und neu. Ich richte meinen Blick also immer wieder nach vorn und zurück.“ Dabei sucht er Perspektivwechsel über die Zusammenarbeit mit Menschen, die ihn musikalisch faszinieren und herausfordern. „Eines der Dinge, die momentan vor allem durch meine Begegnung mit John Paul Jones beeinflusst sind, ist mein Programm für elektrisches Cello mit Improvisation und Elektronik – ein ganz neues Gebiet für mich. Wenn ich einige Stunden daran gearbeitet habe, mich dann umdrehe und auf meinem Notenständer zum Beispiel die Bach-Suiten liegen sehe oder die Brahms-Sonaten, die ich gerade wieder mit Nicolas Hodges gespielt habe, finde ich auch dort wieder etwas überraschend Neues.“
Den für ein ganz anderes musikalisches Genre stilbildenden und bahnbrechenden Musiker John-Paul Jones lernte er zufällig in einer Hotelbar kennen. „Nach ein paar Minuten war klar, dass wir unbedingt etwas zusammen machen wollen. Solche Momente sind ungeheuer faszinierend. Zumal wir wussten, dass es nicht so ganz einfach wird, da wir unsere gemeinsame musikalische Welt erst erfinden müssen.“ In interdisziplinären Begegnungen mit anderen Künstlern begegnet er ähnlichen Herausforderungen. „Wenn ich mich mit einem Pianisten treffe, können wir gleich loslegen: Es gibt eine Menge Sonaten für uns. Als ich dagegen die Choreografin Diana Theocharidis kennenlernte, begriffen wir sofort, dass wir unser Repertoire selbst würden kreieren müssen. Das ganze ist inzwischen ein Prozess, der über 17 Jahre gewachsen ist. Immer, wenn wir ein Konzert oder ein Projekt abschließen, reden wir schon über die nächste Idee.“
Ist eine große Uraufführung dagegen nicht eine regelrecht übersichtliche Situation im musikalischen Leben eines Abenteurers wie Anssi Karttunen? Wenn er beispielsweise demnächst Oliver Knussens neues Cellokonzert mit dem Los Angeles Philharmonic aufführt, trifft er auf die Komposition eines sehr engen Freundes – und ein Orchester, mit dem er schon verschiedenstes Repertoire interpretiert hat. „Aber sobald wir für die erste Probe mit dem neuen Stück dasitzen, sind wir alle in einer völlig neuen Situation“, wendet er ein. Für die Faszination dieses Augenblicks hat Anssi Karttunen viele Beispiele. „Als ich vor Kurzem in Porto war, in der ersten Probe für das zweite Cellokonzert meines guten Freundes Pascal Dusapin, das ich noch nie gespielt hatte, erlebte ich wieder diesen intensiven Moment von Freude und Unsicherheit: Man ist komplett nackt, fühlt sich gleichzeitig aber absolut geborgen, weil man mit Menschen arbeitet, die man liebt. Die Extreme kommen in diesen aufregenden Augenblicken zusammen.“ Eine Erfahrung, die sich wiederum nicht auf Uraufführungen beschränkt. Auch seine erste Zusammenarbeit mit Brad Lubman vor einigen Jahren in Porto mit Schumanns Cellokonzert fällt ihm sofort ein. „Dieses Stück zu erarbeiten, das uns und andere seit so vielen Jahren begleitet, war, als spielten wir ein neues Werk. Jeder kennt jede Note, und doch ist alles neu.“
Die Pendelbewegung zwischen Altbekanntem und Neuentdeckung vollzieht der Cellist auch in seinen Transkriptionen, denen er sich phasenweise intensiv widmet. „Ich bin kein Musikwissenschaftler, und wenn ich mich mit einem Stück in der Tiefe beschäftigen möchte, sind Transkriptionen mein Mittel der Wahl. Ich mache sie also teilweise, weil ich zum Beispiel Brahms’ Händelvariationen für Klavier sonst nicht mit meinem Streichtrio spielen könnte, aber auch, weil ich Brahms verstehen möchte und lernen will, wie ein Komponist seine Ideen für jedes Instrument transformiert.“ Ein weiterer Weg, sein Repertoire lebendig zu gestalten, ist ein besonderes Augenmerk auf vergessene Stücke. „Diese Arbeit geht auch auf das verbreitete Vorurteil zurück, das Cello sei ein Instrument mit beschränktem Repertoire.“ Ein Glaube, den Anssi Karttunens Repertoireliste Lügen straft: „Wie jedes Instrument hat auch das Cello ein riesiges Repertoire, dessen größter Teil vergessen oder unbeachtet ist – weil die Welt so funktioniert, dass vermeintlich jeder nur die ohnehin schon bekannten Standardstücke hören will. Aber ich halte es für einen Teil meiner Verantwortung als Interpret, das Instrument sowohl mit neuen Stücken weiterzubringen als auch sicherzustellen, dass jedes schon existierende Stück seine Chance erhält.“
Seinen umfassenden Blick auf das, was Musik in unserem Leben bedeuten und was die Rolle eines Musikers beinhalten kann, hat Anssi Karttunen durch die Arbeit hinter der Bühne noch weiter geschärft: Zeitweise war er künstlerischer Leiter des Avanti! Chamber Orchestra, des Suvisoitto Festivals in Porvoo, der Helsinki Biennale und des Festivals Musica Nova Helsinki. „Ich ahnte anfangs nicht, wie sehr die Arbeit als künstlerischer Leiter mich in meiner Arbeit als Musiker beeinflussen würde. Nun kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, diese Erfahrung zu missen. Ich rate jedem Musiker, solche Gelegenheiten zu suchen und zu lernen, was alles zum Gelingen eines Konzertes nötig ist. Es geht nicht nur um meine Karriere, mein Spiel, meinen Erfolg, sondern es gehört so vieles dazu. Jede kleine Entscheidung beeinflusst das Ergebnis.“ Durch die intensive Beschäftigung mit Themen wie Publikumsstruktur und Finanzierung mache er sich aber keineswegs zum Sklaven der Zahlen. „Wenn man lernt, mit den Realitäten, mit den Partnern umzugehen, kann auch das ein kreativer Prozess sein. So wie Haydn mit seinem Graf Esterhazy zurechtkommen musste, für den er 130 Baritontrios zu schreiben hatte, so wie es unzähligen Musikern in der Geschichte unter erstaunlichen Bedingungen gelungen ist, eben diese Bedingungen kreativ zu nutzen. Man muss das Niveau nicht senken – Veranstalter sollten nicht in die Falle tappen, sich zu fragen, mit welchem Programm der am wenigsten interessierte Zuhörer noch einverstanden wäre. Wir müssen uns alle herausfordern, die Grenzen zu erweitern und Dinge machen, die künstlerisch so spannend sind, dass das Publikum schlichtweg nicht darauf verzichten kann.“
Ebenso kreativ ist heute seine Herangehensweise an die Vermittlung seines Erfahrungsschatzes an junge Musiker. Seine Schwierigkeiten mit starren Institutionen, die ihn schon in jungen Jahren begleiteten, sind nun Antrieb für ein ganz anderes Unterrichten. „Ich habe mich noch nie für Prüfungen interessiert, aber ich wollte lernen. Deshalb verließ ich damals die Sibelius Akademie ohne Abschluss und studierte privat mit den Lehrern, die ich spannend fand. Meine Neugier darauf, was um mich herum passiert, trieb mich schon damals an und hat sich im Grunde bis heute nicht verändert. Ich interessiere mich für die Arbeit an der Musik, für das Teilen von Ideen und dafür, den Kreislauf des Lernens weiterzuführen, dessen Teil ich selbst bin.“ Seinen Fuß als Lehrer in eine Hochschule zu setzen, hat er, abgesehen von Meisterkursen, lange vermieden - auch, weil er seiner Arbeit mit Komponisten im Zweifelsfall den Vorzug gab. „Und nun, seit vier Jahren, unterrichte ich in dem einzigen privaten Konservatorium in Paris: für mich die am wenigsten starre Institution, die ich mir vorstellen kann.“ Seine Ideen von einem freien, auf Selbstbestimmung und Begegnung basierten Lernen setzt er zudem seit 2008 in der Workshopreihe Creative Dialogue um, veranstaltet in Kooperation mit der Sibelius Akademie. Junge Komponistinnen und Komponisten begegnen dort jungen Interpretinnen und Interpreten und erarbeiten ihre eigene Musik, bei Bedarf unterstützt von Anssi Karttunen und eingeladenen profilierten Musikern und Komponisten. „Ich versuche, die Lernumgebung zu schaffen, die sich für mich selbst als die fruchtbarste herausgestellt hat: eine reale Situation, in der ich jedwede Frage stellen darf. Damit ein Lernprozess geschehen kann, müssen wir unsere eigenen Lehrer werden – nur durch eigenes Entdecken kann man wirklich tiefgehende Fortschritte machen.“ Für die meisten Teilnehmer ist dies eine ganz neue Erfahrung. „Sie erleben die Situation, die mich damals auch in Finnland mit meinen Freunden Magnus und Kaija und Esa-Pekka verband: Wir fingen einfach an, voneinander zu lernen. Alles war erlaubt, niemand setzte Grenzen. Für die jungen Musiker geht es nicht nur darum, zu lernen, wie man moderne Musik spielt, sondern darum, worum es schon immer ging, als der junge Brahms, als der junge Beethoven seine Kollegen kennenlernte. Nur so entwickelt sich der Schaffensprozess weiter.“
Februar 2018
Nina Rohlfs
Gerade war er beim Ultraschall Festival in Berlin als Solist mit neuester Musik – dem Posaunenkonzert von Georg Friedrich Haas – zu hören: Mike Svoboda, gebürtiger Amerikaner und seit vielen Jahren Wahleuropäer, ist ein umtriebiger Musikerneuerer und künstlerischer Partner zahlreicher Komponistinnen und Komponisten. Für das VAN Magazin hat er in die Vergangenheit geblickt. Seine Playlist versammelt Aufnahmen persönlicher musikalischer Helden seiner Anfangsjahre als Posaunist – von sein Klangideal prägenden Jazzalben über spätromantisches Orchesterrepertoire bis hin zu den gleichermaßen unerhörten Avantgardisten Ornette Coleman und Pierre Boulez sowie dem Pionier der Just Intonation, Harry Partch.
Zwei Jahre nach der gefeierten Uraufführung wird Toshio Hosokawas Oper Stilles Meer ab dem 31. Januar als Wiederaufnahme an der Staatsoper Hamburg gezeigt. Sowohl Kritiker als auch Publikum hatten seinerzeit das Stück, das nun erneut in der Inszenierung des japanischen Regisseurs Oriza Hirata und unter der musikalischen Leitung von Kent Nagano auf die Bühne kommt, begeistert aufgenommen: „Hosokawas Klänge erzeugen einen wahren Sog“, kommentierte die nmz, und BR-Klassik lobte „ein ungemein feinsinniges, tastendes Theater, ein intensives Spiel mit Spannungsfeldern“. Stilles Meer nimmt Bezug auf einen traditionellen Nō-Theater-Stoff, den es durch die Versetzung an den Schauplatz Fukushima aktualisiert. Während eines Berlinbesuchs des Komponisten gab Toshio Hosokawa Ende 2015 im Interview Auskunft über seine neue Oper und ihren Bezug zur Katastrophe von Fukushima.
KWMM: Herr Hosokawa, erst einmal herzlichen Glückwunsch nachträglich zu Ihrem Geburtstag! Ist das eigentlich in Japan ein wichtiger Tag?
TH: Vielen Dank! Der 60. ist ein besonderer Geburtstag: Fünf Mal zwölf Jahre. Zwölf Jahre sind ein Kreis. Wir feiern diesen Tag deshalb sehr groß.
In ihrer neuen Oper Stilles Meer wird uns auch ein japanisches Ritual nähergebracht: Zum Äquinoktium, der Tag-und-Nacht-Gleiche im Frühjahr und Herbst, werden die Seelen der Toten für einen Tag eingeladen und am Abend wieder verabschiedet. In ihrer Oper begeht eine in Japan lebende deutsche Frau diese Zeremonie, sie hat durch den Tsunami ihr Kind und ihren zweiten Mann, einen Japaner, verloren. Ihr erster Mann, der Vater des Kindes, möchte sie zur Rückkehr nach Deutschland bewegen. Welche Bedeutung hat in der Oper die Tatsache, dass sich diese Familie in zwei Kulturen bewegt?
Hinter der Oper stecken zwei literarische Vorlagen. Die eine stammt aus dem Nō-Theater: Sumidagawa ist die Geschichte einer Mutter, die ihr Kind verloren hat und dies nicht glauben kann. Der andere Stoff kommt aus unserer klassischen Moderne und ist gut hundert Jahre alt. In der Erzählung Maihime [in dt. Übersetzung als Die Tanzprinzessin und Das Ballettmädchen erschienen, Anm. d. Red.] geht es um die zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung eines Japaners in Berlin. Das von seinen eigenen Erlebnissen in Deutschland und auch von deutscher Literatur inspirierte Buch des Schriftstellers Mori Ogai ist in Japan sehr bekannt. In meiner Oper ist es umgekehrt, ein deutscher Mann kommt nach Japan, um seine Liebe wiederzufinden. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden ist für uns immer interessant.
Genau diese Auseinandersetzung spielt in Ihrer Biografie eine zentrale Rolle. Sie haben in Deutschland Komposition studiert und aus dieser Ferne die japanische Kultur neu für sich entdeckt. Daraufhin haben Sie in Ihrem Opernschaffen schon zwei Mal auf Nō-Theater-Stoffe zurückgegriffen. Stilles Meer geht nun, anders als die Nō-Opern Hanjo und Matsukaze, über den traditionellen Stoff hinaus, sowohl durch den kulturellen Perspektivwechsel als auch den aktuellen Bezug zum Tsunami und der Atomkatastrophe von Fukushima. Wie haben Sie selbst diese Ereignisse erlebt?
Mein musikalisches Hauptthema ist es, mit der Natur eins zu werden, mit ihr Harmonie zu finden. Dieses Ziel zieht sich durch alle meine Werke. In Fukushima haben wir die Natur kaputtgemacht! Die Naturkatastrophe war viel schrecklicher, als wir uns ausmalen konnten. Ich bin in Hiroshima geboren. Vor meiner Geburt hat diese Stadt eine große Katastrophe erlebt. Und dann Fukushima... Das war für mich ein Schock, und ich habe mich seitdem viel mit dem Thema auseinandergesetzt. Es gibt in der Oper eine Szene, in der die Menschen mit Laternen ans Meer gehen und die Lichter dem Meer zurückgeben. In diesem Ritual drückt sich aus, dass wir glauben, die Menschenseele kommt aus dem Meer und geht nach dem Tod wieder zurück ins Meer. Aber dieses Meer ist nicht mehr sauber. Wohin können wir also zurückgehen?
Schon im Libretto zeigt sich, dass sich ein Bruch durch die Oper zieht: Es gibt einen historischen Stoff, ein traditionelles Ritual, und plötzlich kommen Menschen in Schutzanzügen. Ist das neu für Ihr Opernschaffen?
Ja. Wir können nicht nur schöne Opern machen. Ich selbst war in Fukushima, ich habe die Städte gesehen, in denen niemand wohnt, es war schrecklich. Es schien mir wie... unsere Zukunft. Das Ende der Welt. Das habe ich wirklich gesehen, ich kann es nicht mehr vergessen. Heute möchten wir in Japan gern die Augen davor verschließen. Aber wir müssen sehen, was passiert ist.
Oriza Hirata hat das Libretto entwickelt, das von Hannah Dübgen in seine endgültige Fassung gebracht wurde, und er führt in Hamburg Regie. In Japan ist der Theatermacher bekannt dafür, dass er Umgangssprache benutzt und sehr realistisch inszeniert. Wie passt das zur Oper?
Georges Delnon hat sich als neuer Intendant der Hamburger Oper die Zusammenarbeit gewünscht. Ihm schwebte vor, etwas ganz anderes auf die Bühne zu bringen als die heute in Deutschland üblichen Regieopern. Bisher hat Oriza Hirata nur eine kleinere Operninszenierung übernommen, nämlich Hanjo in Hiroshima. Er hat das wunderbar gemacht. Er hat sich außerdem schon in anderen Theaterarbeiten mit Robotern beschäftigt und benutzt sie auch in meiner Oper: In der Schutzzone, die man nicht betreten darf, fahren nur Roboter. Sie führen den in Schutzanzüge gekleideten Chor in diese Zone.
Es ist mit dem Dirigenten Kent Nagano noch jemand mit japanischen Wurzeln beteiligt.
Kent Nagano ist ein wunderbarer Dirigent, ich habe schon mehrmals mit ihm zusammengearbeitet. Er ist Amerikaner, und er sucht immer seine Identität. Ich kenne mehrere Leute, die zwischen beiden Kulturen stehen, und all diese Leute sind auf der Suche. Das kann interessant sein – wie kommen die Kulturen zusammen, wie kann man fremde Kulturen kennenlernen und neu gestalten?
Es gibt noch eine Kulturbrücke in diesem Stück und überhaupt in Ihrer Arbeit, und zwar den Tanz. Ihre vorigen Nō-Opern Hanjo und Matsukaze wurden von bekannten europäischen Choreografinnen, von Anne Teresa de Keersmaekers und Sasha Waltz, inszeniert. Die weibliche Hauptfigur in dem neuen Stück war früher Balletttänzerin, und ein Kind, das Unterricht von ihr erhielt, tanzt für sie während der Zeremonie am Meer und schlüpft damit kurz in die Rolle des toten Kindes. Welche Rolle spielt Tanz für Sie?
Beim Nō-Theater sind alle Bewegungen festgelegt und stilisiert. Und wenn ich in der Inszenierung mit Choreografen arbeite, bewegen sich die Sänger sehr schön. Das brauche ich. Im japanischen Tanz bewegt man sich ganz langsam, zusammen mit der Erde. Europäisches Ballett versucht, gegen die Schwerkraft zu wirken. Diese Gedanken haben mich sehr inspiriert. Ich habe einige Stücke für imaginären Tanz komponiert, meine innere japanische Tanzmusik.
Im Zentrum der Oper steht ein Abschiedsprozess, und insgesamt geht es in der Nō-Theater Tradition um Heilung. Wie kann das auch in der Oper geschehen, und was passiert dabei mit dem Zuschauer?
Mein Grund dafür, Musik zu machen, ist, dass ich Heilung brauche, seelische Erlösung. In meiner Oper singt diese traurige Mutter und erfährt dadurch Heilung. Auch das Publikum erlebt diese Seelenheilung durch das Musikhören. Schon Benjamin Britten hat den Sumidagawa Stoff benutzt und auf dieser Grundlage Curlew River komponiert. Ich finde, das ist eine sehr gute Oper, aber zu christlich. Ich möchte eine buddhistische Oper machen, in der es eher darum geht, zu akzeptieren. Nō ist das Theater der Seelenheilung, und das soll auch meine Oper sein.
Und die Heilung besteht hier darin, dass wir in einem anderen Zustand die Realität wahrnehmen und annehmen können?
Ja. Dass wir das sehen, musikalisch sehen, was wirklich in Japan passiert ist. Das ist das Einzige, was Künstler heute machen können. Wir können uns nicht direkt politisch ausdrücken. Aber mit Musik können wir die Katastrophe zeigen, und auch die Ordnung.
Keine Angst: Christoph Prégardien ist weiterhin vor allem als einer der führenden Tenöre unserer Zeit international unterwegs – allein in der laufenden Saison ist seine Stimme unter anderem in London, Porto, Rom, Warschau, Amsterdam, Berlin, Oxford und Dresden zu hören. Aber wundern sollte man sich nicht, wenn man den Sänger nach dem Erfolg seiner Dirigate von Bachs Johannes- und Matthäus-Passion sowie dem Weihnachtsoratorium in Zukunft immer öfter auch am Pult sehen wird. Denn nach eigenen Angaben hat er bei seinen Tourneen mit dem Ensemble Le Concert Lorrain und dem Nederlands Kamerkoor bzw. dem Balthasar-Neumann-Chor „Blut geleckt“. Im Gespräch erklärt Christoph Prégardien, der 2019 bei den Duisburger Philharmonikern unter anderem Mozarts Requiem dirigieren wird, was ihn an der neuen Rolle reizt, welche Erfahrungen seine Interpretationen beflügeln und inwiefern sich der Tourneealltag von Sängern und Dirigenten unterscheidet.
Wenn man dem gängigen Vorurteil Glauben schenkt, sind Tenöre im Grunde nur am Klang ihrer eigenen Stimme interessiert. Sie hingegen interessieren sich auch für die Partitur – und haben angefangen, zu dirigieren. Wie kam es dazu?
Ich hatte nie Pläne, Dirigent zu werden, das war einfach ein anderes Berufsbild. Die Idee ist langsam gewachsen: Immer öfter hatte ich das Gefühl – gerade bei Werken, die ich sehr gut kenne – dass manche Dirigenten sich kaum darum kümmern, ob eine Aufführung eine wirkliche Einheit ergibt. Und zwar eine Einheit, die sich vom Orchester über den Chor bis zu den Solisten fortsetzt. Vor allem die Solisten werden von vielen Dirigenten eher „in Ruhe gelassen“ und bekommen wenig Feedback darüber, was sie zu tun haben: was Verzierungen, Vorhalte, Vibrato angeht. Da kommen dann Aufführungen heraus, die vielleicht vom Chor und Orchester her ganz gut sind, aber bei denen die Solisten ein bisschen wie Fremdkörper wirken. Es gibt einige wenige Dirigenten, und das sind interessanterweise vor allen Dingen diejenigen, die in der historischen Aufführungspraxis tätig sind, die auch bei den Solisten darauf achten, dass eine Einheitlichkeit entsteht. Dazu gehört sicherlich René Jacobs, genauso wie Herreweghe, Koopmann, auch Gardiner.
Empfinden die Solisten es manchmal als Übergriff auf ihr Terrain, wenn jemand ihnen zum Beispiel vorschreiben will, wie sie Verzierungen machen sollen?
Ich glaube, dass in den Bereichen, wo ich bisher gearbeitet habe, eine große Offenheit besteht. Bei der jüngeren Generation von Sängern herrscht eine andere Einstellung dem eigenen Berufsbild gegenüber. Dieses Stargehabe, das in der Oper, bei den großen Namen vorkommen mag, ist in dieser Generation völlig vorbei. Ich habe nie Probleme gehabt, auch den Sängern zu sagen: Jetzt versucht das doch mal so oder macht da ein bisschen weniger Vibrato und singt da mal leiser.
Da sind Sie sicherlich auch einem Sänger gegenüber eine andere Autorität als es ein Dirigent wäre, der sich mit Gesang weniger auskennt.
Genau. Gerade die Chöre sind extrem offen und freudig, dass da vorne jemand steht, der genau um ihre Probleme weiß. Ich kann natürlich mit dem Orchester beispielsweise mit meiner Erfahrung, was die Streicher betrifft, nicht so arbeiten wie jemand, der seit 30 Jahren vorne steht und vielleicht selbst Geiger ist. Da bin ich sehr auf die Hilfe der Konzertmeisterin oder des Konzertmeisters oder des Continuo-Cellisten angewiesen. Aber es gibt neben der sängerischen Seite noch andere Dinge, auf die viele Instrumentalisten-Dirigenten nicht unbedingt achten, Phrasierung zum Beispiel. Und ganz wichtig ist mir die Verbindung von Wort und Komposition – die Interpretation der Textvorlage durch den Komponisten. Da habe ich natürlich eine große Erfahrung durch mein langes Berufsleben und kann Dinge sagen, die für einige neu sind. Sehr profitiert habe ich in dieser Hinsicht von den großen Dirigenten, mit denen ich arbeiten durfte und die ich so sehr schätze. Wie Harnoncourt Stücke aufgebaut hat, nicht aus der musikalischen, sondern aus der textlichen Struktur – das war extrem beeindruckend und hat mich sehr geprägt. Und noch auf einer anderen Ebene Philippe Herreweghe, weil ich empfunden habe, dass niemand Bach so gut und so textnah verstanden hat wie er. Er kann mit dieser barocken Sprache extrem viel anfangen, gerade auf der spirituellen Ebene. Dieser Subtext ist besonders bei geistlicher Musik sehr wichtig.
Auch wenn wir jetzt schon mittendrin sind – vielleicht können Sie noch mal einen halben Schritt zurückgehen und kurz schildern, wie es dann tatsächlich dazu gekommen ist, dass Sie zum ersten Mal dirigiert haben.
Aus meiner Unzufriedenheit mit gewissen Aufführungen heraus kam ich mit Stephan Schultz, dem künstlerischen Leiter von Le Concert Lorrain, darüber ins Gespräch, dass ich Lust hätte, selbst mal zu dirigieren. Und dann haben wir für 2012 die Johannes-Passion geplant. Ich hatte die Evangelisten-Partie immer schon aus der Partitur gesungen und nicht aus dem Klavierauszug, so dass ich glaubte, die Partitur einigermaßen zu kennen. Aber als ich dann mit der Vorbereitung anfing, merkte ich, wie komplex doch so eine Partitur ist. Ich habe viel Sekundärliteratur gelesen und vor allem Dirigierstunden genommen. Ich habe mich mit Marcus Creed getroffen, der damals einen wunderbaren Assistenten hatte, mit dem ich mich auch jetzt immer noch treffe, wenn Probleme anstehen. Und ich habe Fabio Luisi gefragt: Fabio, ich werde 2012 zum ersten Mal dirigieren – würdest Du mir ein paar Privatstunden geben? Er sagte, au ja, ich zeige Dir, wie das Dirigieren geht, und Du erzählst mir ein bisschen über Bach. Wenn er dirigiert, sind der Körper, die Hände und der Kopf eine Einheit, egal, ob es Musik aus dem 20., 19. oder 18. Jahrhundert ist. Das ist so elegant, das ist so klar, das ist im Schlag so deutlich – genau das schwebt mir vor. Dem Vorurteil „der kann das doch gar nicht, der ist doch Sänger“ wollte ich jedenfalls entgegentreten, indem ich mich auf das erste Dirigat sehr intensiv vorbereitet habe.
Sie haben inzwischen mehrere Tourneen als Dirigent gemacht. Vieles an diesem Tourneealltag ist sicherlich ganz anders als in ihrem sonstigen Berufsleben: Als Sänger müssen Sie unterwegs Ihre Stimme schonen. Als Dirigent müssen Sie vor dem Orchester ständig viel sprechen, laut sprechen.
Das ist sehr interessant, was das Energielevel anbelangt. Als Sänger bist du natürlich immer besorgt, dass du deine beste Fähigkeit am Abend im Konzert hast. Du versuchst also am Konzerttag, dich gut auszuruhen. Wenn du so eine große Partie zu singen hast wie den Evangelisten in der Matthäuspassion, versuchst du, dich auch in den Tagen davor in den Proben nicht so zu verausgaben. Als Dirigent dagegen bist du der erste, der kommt und der letzte, der geht – und es macht überhaupt nichts aus. Du hast so viel Energie – ob das durch die Verantwortung ist oder dadurch, dass es so viel Spaß macht? Ich habe keine Ahnung. Und was auch interessant ist: Das Nervositätslevel ist ein anderes. Wenn ich als Sänger auf die Bühne gehe, bin ich eine halbe Stunde vorher extrem nervös, das geht mir eigentlich immer noch so. Als Dirigent war das zwar anfangs auch schlimm – ich dachte, was passiert da, du gehst jetzt raus und musst den Auftakt geben und dann das ganze Stück über präsent sein. Das hat aber so einen riesigen Spaß gemacht, dass mir ungeahnte Kräfte zugeflogen sind. Vor der zweiten Aufführung war ich schon gar nicht mehr nervös. Und wissen Sie, was das Schönste daran ist? Als Sänger ist man ja gewohnt, immer ins Publikum zu schauen. Da sieht man zwar teils auch schöne Dinge, aber oft denkt man, wie benehmen die sich denn, oder wie reagieren die. Und sobald du dich als Dirigent umdrehst, siehst du 30, 40, 50 Musiker vor dir, die dich alle mit strahlenden, erwartungsvollen Augen anschauen.
Sie haben auch schon einmal beides gleichzeitig gemacht, gesungen und dirigiert.
Ja, sowohl bei der Matthäus- als auch bei der Johannes-Passion. Eigentlich wollte ich mich bei meiner ersten Tournee nur auf das Dirigieren konzentrieren. Es kamen natürlich Anfragen, kann der Herr Prégardien nicht den Evangelisten singen. Ich habe das abgelehnt bis auf eine Vorstellung in Luzern. Das war das zwölfte Konzert von dreizehn, und da habe ich gesagt, dann kannst du das. Es war von der Choreographie her erst etwas schwierig; ich hatte elfmal in normaler Aufstellung dirigiert und wollte jetzt nicht alles umdrehen. Ich habe mich dann also immer nur zu den Rezitativen zum Publikum gewendet. Das lief aber gut, es war ein Riesenerfolg. Wir haben dann zwei Jahre später auch die Matthäus-Passion dort so gemacht. Ich muss sagen, das ist wie ein Sahnehäubchen obendrauf, wenn du nicht nur Dirigent bist, sondern auch die Evangelistenpartie singen darfst. Aber – es ist wahnsinnig anstrengend.
Sie dirigieren 2019 bei den Duisburger Philharmonikern zum ersten Mal Mozart nach den drei großen Bach-Werken. Müssen Sie dafür dirigiertechnisch aufrüsten, umdenken, anders herangehen?
Ich glaube, es ist eine ähnliche Prozedur auf einer anderen Ebene. Natürlich ist so ein Werk wie das Mozart-Requiem anders gebaut als eine Matthäus-Passion. Man hat längere Sätze, eine andere Stilistik und ein Orchester, das „normale“ Dirigenten gewohnt ist. Da werde ich mich wohl ein bisschen umstellen müssen. Man ist ja in Alte-Musik-Kreisen auch als Chef eher auf gleicher Ebene mit den Musikern. Als Dirigent von einem Symphonieorchester hat man eine andere Autorität. Aber ich glaube, damit komme ich gut zurecht, ich habe auch mit solchen Orchestern genügend Erfahrung. Und gerade mit den Duisburgern habe ich auch solistisch schon viel gesungen. Sehr gespannt bin ich auch auf den ersten Teil des Programms. Da mache ich Konzertarien von Mozart, mit meinem Sohn Julian und mit Julia Kleiter, meiner Nichte. Dort gibt es ausgedehnte Accompagnato-Rezitative, bei denen die dirigentischen Fähigkeiten sehr gefragt sind.
Haben Sie über diesen kommenden Auftritt hinaus Wünsche, was Sie gern dirigieren würden? Vielleicht auch reine Orchesterwerke?
Es ist noch nichts dergleichen geplant; ich habe auch große Hochachtung davor, einen Sinfoniesatz so zu gestalten, dass er musikalisch Sinn ergibt. Die Struktur einer Phrase in der Vokalmusik ergibt sich oft von ganz alleine, weil man den Text als Grundlage hat. Bei einem rein orchestralen Stück hat man das nicht, und in einem klassischen Sinfoniesatz muss man Bögen spannen können, die über 15, 20 Minuten gehen. Ich möchte das gerne irgendwann machen, wenn sich die Gelegenheit ergibt, aber das hat noch ein bisschen Zeit. Ich mache 2019 erst mal ein a cappella Programm mit der Netherlands Bach Society, mit Schütz’ Johannes-Passion und Motetten von Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy. Und was jetzt im Mai ganz toll war: Philippe Herreweghe ist 70 geworden und ich wurde zu einem großen Festkonzert eingeladen, wo viele seiner musikalischen Freunde aufgetreten sind. Dort durfte ich zum ersten Mal das Collegium Vocale dirigieren – dieses Ensemble, mit dem ich so viele Konzerte gesungen habe. Das war extrem emotional für mich. Am Schluss gab es ein Geburtstagsständchen, das ein belgischer Komponist für alle Musiker geschrieben hatte, das habe ich auch dirigiert. Das Ganze hat dazu geführt, dass das Collegium Vocale mich wahrscheinlich für 2020 einlädt, eine Weihnachtsoratorium-Tournee mit ihnen zu machen. Dass ich dann quasi Philippes Ensemble und Orchester auf Tournee dirigieren darf, das ist schon super. Und was Wünsche angeht: Es gibt zwei Sachen, die ich sehr gern dirigieren würde. Das eine wäre Mendelssohns Elias. Das andere ist, dass ich gerne mit meinem Sohn Julian die komponierte Interpretation der Winterreise von Hans Zender machen würde, die ich sehr oft gesungen habe. Und wenn ich durch das Repertoire schaue, gibt es einiges, was ich mir sehr gut vorstellen kann.
Nina Rohlfs, 8/2017
Nur wenige Monate nach dem Erfolg ihrer Oper Infinite Now, die gerade durch die Kritikerumfrage des Magazins Opernwelt zur Uraufführung des Jahres gekürt wurde, kam am 22. Oktober ein neues Werk von Chaya Czernowin zur Uraufführung: Das Cellokonzert Guardian wurde im Rahmen der Donaueschinger Musiktage von Séverine Ballon und dem SWR Symphonieorchester unter Pablo Rus Broseta aus der Taufe gehoben und ist am 17. November erneut in Luxemburg zu erleben. Doch was hat es mit diesem Namen auf sich? Bezieht er sich auf eine britische Tageszeitung, oder soll gar ein Schutzengel angerufen werden? Die Komponistin lacht angesichts dieser Assoziationen und erklärt: „Namen dienen manchmal einfach als Inspirationsquelle. Das kann der Klang sein oder eine Assoziation, die dabei hilft, dem eigenen Schaffen eine Farbe zu verleihen.“
„In diesem Fall liegt im Namen eine Art Anforderung oder Wunsch. Ich habe Guardian geschrieben, nachdem ich Infinite Now beendet hatte, als Folge sozusagen. Obwohl es in Infinite Now am Ende einen Hoffnungsschimmer gibt, ist die Oper düsterer geraten als ich erwartet hatte. Also ist in meiner Vorstellung Guardian ein Gesuch nach einer Kraft, die uns schützt, eine Erzählung über ein nicht-religiöses Gebet.“ Das Cellokonzert als Reaktion also auf ein eigenes Werk, in dem Chaya Czernowin ein Thema gründlich erforscht: Infinite Now zeigt aus multiplen, auch textlich durch unterschiedliche Quellen gespeisten Perspektiven eine unendlich dehnbar erscheinende Zeit angesichts katastrophaler Ausweglosigkeit. Eine Erzählung der chinesischen Autorin Can Xue war dafür ebenso Grundlage wie Luk Percevals Drama Front, seinerseits nach Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues entstanden.
Trotz der im Schaffensprozess empfundenen Nähe zur Oper stellt das Cellokonzert natürlich eigene formale Anforderungen. „Auf den ersten Blick kommt es ganz traditionell daher: Das Solo-Cello erklingt nach einem Teil, den man als Einleitung sehen könnte, und es scheint eine Kadenz am Ende des Stückes zu geben“, erklärt die Komponistin. „Aber das täuscht. Die ‚Kadenz’ zum Beispiel ist keine virtuos-improvisatorisch daherkommende Zusammenschau des vorigen Materials. Sie ist ein ganz neuer Ort, an dem die Hoffnungslosigkeit sich lichtet. Wenn man etwas immer und immer wieder wiederholt und dabei langsamer und langsamer wird, bekommt es plötzlich eine lyrische Qualität. Die Stelle ist eine Art Nachsatz über die Hoffnungslosigkeit, und ein Gefühl von Erkenntnis beginnt aufzuscheinen. Diese Quasi-Kadenz mündet dann nicht in eine Coda, sondern das ganze Orchester ergießt sich in einem riesigen Block hinein – und plötzlich endet das Stück, wie inmitten eines Staus. Obwohl also das, was man in der Partitur sieht, zu einem gewissen Grad den normalen formalen Anforderungen entspricht, werden diese transformiert.“
Künstlerische Partnerin in diesem Transformationsprozess ist Séverine Ballon, mit der Chaya Czernowin seit etwa 2008 befreundet ist. Damals spielte die Cellistin einen der Soloparts in Chaya Czernowins bei der Münchener Biennale im Jahr 2000 mit riesigem Erfolg uraufgeführten Oper Pnima. „Ich kenne ihr Spiel und ihre Persönlichkeit extrem gut und konnte mich deshalb beim Schreiben stark davon inspirieren lassen, wer sie ist und wie sie mit ihrem Instrument umgeht“, erklärt die Komponistin. „Normalerweise bringen die Leute, mit denen ich arbeite, nicht nur herausragende solistische Fähigkeiten mit, sondern auch eine ganz individuelle Herangehensweise an ihr Instrument. Fast, als sei es Teil ihrer Persönlichkeit, ein gänzlich individueller Ausdruck ihres Charakters. Dem wende ich mich beim Schreiben zu.“
Von der Wichtigkeit solcher künstlerischer Begegnungen und Kollaborationen berichtet Chaya Czernowin immer wieder – auch mit der Autorin Can Xue zum Beispiel entwickelte sich während der Arbeit an Infinite Now ein enger Austausch. „Es geht dabei nicht nur um Persönliches. Ich glaube, dass jeder schöpferische, offene, erfahrungshungrige Mensch von Begegnungen inspiriert wird. Und auch von Dingen. Ich weiß zum Beispiel nicht, wie oft ich die Stufen fotografiert habe, die zu meinem Haus führen. Sie sind immer ein bisschen feucht, und deshalb wächst etwas Grünliches auf ihnen. Und dieses Grün hat so einen speziellen Schimmer...“
Ein Schimmer, der vielleicht Klang inspirieren kann – vielfach sind es solche in der sinnlichen Erfahrung begründeten Quellen, die Chaya Czernowin in Form synästhetischer Assoziationen nutzt. In ihrem Sprechen über Musik äußern sie sich in vielfältigen Metaphern. „Das hat damit zu tun, was passiert, wenn die Motivation zum Schreiben nicht in erster Linie im Meistern der Virtuosität der Schöpferrolle begründet ist“, holt sie zur Erklärung aus. „Natürlich wünsche ich mir diese Meisterschaft, aber für mich ist es viel wichtiger, Dinge zu entdecken, die ich noch nicht kenne. Und Situationen oder hörbare Eindrücke in die Welt zu bringen, durch die Menschen etwas erfahren können, das im Innersten berührt. Dieses Etwas ist nicht neu, denn es ist in uns, aber es wurde bisher nicht ins Außen geholt. Eine Metapher kann für mich ein sehr bedeutsames und hilfreiches Instrument sein, um an diesen Ort zu gelangen.“
So häufig im Sprechen über ihre Musik verschiedenste Metaphern auftauchen, so zurückhaltend äußert sie sich gewöhnlich über Fragen von Traditionslinien und ästhetischer Zuordnung ihrer Stücke. „Auch wenn man mir Fragen dazu stellt, dass ich eine komponierende Frau bin, oder über mein Jüdisch- oder Israelisch-Sein“, bestätigt und ergänzt sie diese Beobachtung. „Ich bin jemand, der in die Zukunft blickt. Ich habe mir sehr genau mein Elternhaus angesehen, in meiner Oper Pnima und überhaupt in der Zeit, als ich mich mit dem Dehnen von Identitäten beschäftigt habe – eine Reaktion auf meine Herkunft. Ich habe das in den 90ern und frühen 2000ern umfassend bearbeitet: Fluktuationen erzeugt, ein Kontinuum zwischen möglichen Identitäten eines Stückes, eines Instrumentes geschaffen. Aber jetzt haben sich meine Anliegen komplett verändert, während gleichzeitig alles, was ich damals gelernt habe, Teil von mir ist. Mein Schwerpunkt liegt aber nicht dort, wo ich herkomme, sondern dort, wohin ich mich bewege, in was ich mich verwandeln will. Veränderung ist für mich so bedeutsam!“
Ebenso wie ihre künstlerischen Forschungsgebiete sich immer wieder verlagern, hat Chaya Czernowin auch ihren Wohnsitz immer wieder verlegt. Denkbar wäre es also durchaus, ihre künstlerische Suche auch anhand der biografischen Orte zu erzählen, angefangen von ihrer Kindheit in Israel, wo musikalische Mentoren schnell ihre außerordentliche Begabung erkannten. „Von Anfang an war die Musik eine Heimat für mich. Ich dachte immer: Was daran soll denn so schwierig sein? Ich habe ein absolutes Gehör, also konnte ich alle Tonhöhen auch in riesigen Clusterklängen bestimmen. Aber – ich war nicht für die Bühne gemacht.“ Anstatt sich, wie von ihren Lehrern erhofft, auf eine Karriere als Konzertpianistin vorzubereiten, schlug sie einen anderen Weg ein. „In meiner Jugend kamen an den Wochenenden oft an die 20 Leute mit Gitarren, Schlagzeug und so weiter zu mir nach Hause und wir spielten Popmusik. Jahrelang spielte ich auch in Piano Bars. Und dann hatten wir eine Progressive Rock Band. Als ich anfing, Songs zu komponieren, ergab plötzlich alles einen Sinn für mich. Die Musik, die ich schrieb, wurde allerdings immer seltsamer, und die Leute sagten: Chaya, das hier ist keine Popmusik mehr – aber hast Du vielleicht mal was von Webern gehört? Du musst das studieren!“
Und studieren hieß für Chaya Czernowin nicht zuletzt reisen – als DAAD Stipendiatin lernte sie in Deutschland bei Dieter Schnebel, später in New York und San Diego, und sie schloss an ihr Studium eine Phase intensiven Reisens an. Die vielen Einflüsse dieses künstlerischen Weges kann sie, auch wenn ihr kreatives Hier und Jetzt für sie immer im Mittelpunkt steht, klar benennen. „Natürlich wächst niemand im luftleeren Raum auf. Ich sage immer, dass ich widersprüchliche Einflüsse habe. Zum Beispiel die japanische höfische Musik Gagaku – und freie Improvisation. Oder Scelsi – und Feldman. Oder Lachenmann – und Ferneyhough. Aber wenn man mich fragt, in welche Erbfolge ich mich gern einordnen würde, sage ich, ohne prätentiös klingen zu wollen: Ockeghem, Monteverdi, Gesualdo, Scarlatti, Schumann, der späte Beethoven – all diese Künstler, die gegen die Konventionen ihrer Zeit angingen und gegen die Vergangenheit in Richtung Zukunft arbeiteten. Diese Reibung kann man in ihrem Werk erkennen.“ Morton Feldman führt sie dabei als exemplarisch für das Prinzip fortwährender Suche an. „Sein ganzes Leben hindurch erkennt man einen roten Faden bestimmter Fragestellungen, besonders die Temporalität betreffend und wie man erkennt, dass das Material seinen eigenen Willen hat. Das hat er entwickelt, mit wechselndem Fokus. Zum Ende seines Lebens hin hat er die beste Musik geschrieben, weil er nicht an Meisterschaft interessiert war, sondern bis zum letzten Moment entdecken wollte.“
Der Gedanke liegt nah, dass ihr momentaner Wohnort – sie lehrt, nach Professuren in San Diego und Wien, seit 2009 an der Harvard University – auch künstlerisch recht gut zu ihr passen könnte. Der Eklektizismus der Einflüsse und die Ausrichtung auf Erfahrung und Weiterentwicklung verbindet sie schließlich mit amerikanischen Künstlern verschiedenster Disziplinen. Chaya Czernowin bestätigt dies, schränkt aber ein: „Ich suche die Reibung, und das ist ein weniger amerikanisches Konzept. Es hat mehr mit der europäischen Dialektik zu tun. Vielleicht bin ich eine seltsame Reisende in der Hinsicht, dass ich in dieser Dialektik immer das unsichtbare Kontinuum entdecken möchte.“ Denn in seiner Grundform hält sie das rein Dialektische für überholt. „Mit unserer Technologie, unseren Möglichkeiten für High Resolution können wir heutzutage ins Innere schauen und entdecken, wie minutiös alles miteinander verbunden ist.“
Diesen Blick auf die feinen Zusammenhänge, quasi mit hochauflösender Kamera geschossen, kann man sicherlich auch für das große Musiktheaterwerk erwarten, an dem sie zurzeit arbeitet. „Die neue Oper wird wie ein Nachhausekommen für mich sein, zurück zur Intimität und in die psychologischen Gefilde. Infinite Now ist so riesig, es ist meine ganze Weltsicht. In dem jetzt entstehenden Werk komme ich zurück auf eine ganz persönliche Stimme.“
Oktober 2017, Nina Rohlfs
Guardian (2017) für Cello und Orchester
Kompositionsauftrag des Südwestrundfunks, der Philharmonie Luxembourg und des Orchestre Philharmonique du Luxembourg.
Uraufführung
Séverine Ballon (Cello), SWR Symphonieorchester, Pablo Rus Broseta (Dirigent)
Donaueschingen, Baarsporthalle, 22.10.2017
Mitschnitt der Uraufführung zum Nachhören
Luxemburgische Erstaufführung
Séverine Ballon (Cello), Orchestre Philharmonique de Luxembourg, Roland Kluttig (Dirigent)
Luxembourg, Philharmonie Luxembourg, 17.11.2017
Als Abschluss einer Tournee, die unter anderem ans deSingel Antwerpen und ans Wiener Konzerthaus führt, geben Jan Caeyers und sein Orchester Le Concert Olympique am 20. November mit einem besonderen Programm ihr Berliner Debüt: Gemeinsam mit hochkarätigen Solisten – Till Fellner, Antje Weithaas und Maximilian Hornung interpretieren das Tripelkonzert – präsentieren sie im Kammermusiksaal der Philharmonie den Auftakt zur Konzertreihe The Beethoven Experience. Dass dieser Titel kein leeres Versprechen bleibt, sondern die Konzerte tatsächlich besondere Einblicke in das musikalische Universum des Komponisten bieten, erläutert der ausgewiesene Beethoven-Experte und -Biograph Jan Caeyers im Video-Interview.
Was erwartet das Publikum beim Konzert am 20. November in der Philharmonie?
Jan Caeyers: Wir werden zeigen, wie radikal sich die Orchestermusik zwischen 1795 und 1810 dank Beethoven entwickelt hat. Wir fangen an mit der letzten Londoner Sinfonie von Haydn – wie wir wissen war Haydn Beethovens Lehrer und auch sein Referenzpunkt – und wir enden mit der Egmont Ouvertüre, die eigentlich diese heroische Episode Beethovens abschließt. Das ist ein großer Sprung. Es gibt kaum Beispiele in der Musikgeschichte dafür, dass sich innerhalb von 15 Jahren die Musik so entwickelt hat. Das werden wir zeigen. Und wichtig ist bei Beethoven, dass diese Entwicklung immer durch seine Klaviermusik entstanden ist. Beethoven hat alle seine Neuerungen zuerst am Klavier ausprobiert. Deswegen spielen wir zentral im Konzert das Tripelkonzert, das ungefähr auf halber Strecke zwischen 1795 und 1810 geschrieben wurde und das die Verbindung zwischen den beiden anderen Stücken herstellt. Und dann verspreche ich, dass ich in dem Konzert jedes Mal kurz ein bisschen reden werde, nicht viel, aber ich werde versuchen dem Publikum zu zeigen, was bei jedem Stück besonders ist. Kein musikwissenschaftlicher Vortrag, sondern kleine Akzente in der Hoffnung, dass die Leute mit mehr Konzentration zuhören können und besser verstehen, was da auf der Bühne passiert.
Cellist Maximilian Hornung blickt der Aufführung des Tripelkonzertes mit Enthusiasmus entgegen und beschreibt im Interview seine dreifache Rolle in dem Stück: „Kammermusik spielen, mit dem Orchester spielen und auch Solist sein bei diesem Werk.“
Termine:
12.11.2017, 19.30 Uhr
deSingel Antwerpen
14.11.2017, 19.30 Uhr
Stadsschouwburg, Leuven
16.11.2017, 19.30 Uhr
Cultuurcentrum, Hasselt
18.11.2017, 20.00 Uhr
Forum am Schlosspark Ludwigsburg
19.11.2017, 19.30 Uhr
Wiener Konzerthaus
20.11.2017, 20.00 Uhr
Berliner Philharmonie
Weitere Videoclips zum Konzert
Im September war Mariam Batsashvili auf Konzertreise in Mexiko. Die Nachrichten über das verheerende Erdbeben vom 19. September erreichten die Pianistin kurze Zeit vor ihrem ersten Konzert in Monterrey. Für den Keyboard Charitable Trust in London, der die Tournee organisiert hat, verfasste sie einen sehr persönlichen Bericht über ihre Reiseerlebnisse, den wir in Auszügen veröffentlichen.
After a very long trip I arrived in Monterrey almost at midnight and Jorge Gallegos and his lovely wife picked me up at the airport. I was way too tired to look around my room in the hotel, so I just found my bed and slept at once. The next morning when I woke up, I opened my curtains, and: wow, a beautiful big balcony with table, chairs and sunbed... I couldn’t help but run out there and I found myself standing there in front of a beautiful panorama: city, mountains, sunshine.
That was a beautiful start to my adventure in this city. I practised at Jorge’s instrument shop, with an endless choice of pianos. Later on Jorge took me to the mountains, as I am attracted to nature and high places (above sea level), and we walked there, talked about many subjects and realized how very much we have in common. The next day we went to his friend’s for lunch, a beautiful family who cooked special Mexican food (for me, a vegetarian improvisation of the original dishes) – it was so good! To be sitting there in the middle of a loving family, with Jorge and his wife, was a wonderful experience. I quickly realised that our mentalities are very close to each other in terms of humour and general understanding. I was taken everywhere by Jorge, his son, or a driver: I could not have been more cared for. I felt so much love!
On the day of the concert we were all excited. Jorge was happy with the audience attendance, I was happy to be playing for them and trying to give them some comfort with music at such a difficult time for their country. It was only a couple of hours before the concert that the tragedy caused by the earthquake happened. I always tend to present music as something close to people’s hearts, not as the job of a professional. I believe art in general is something that can help people, awaken their deepest emotions, maybe even some long forgotten feelings or experiences that are hidden somewhere in the corner of their souls. Music reaches different corners depending on what music it is, and it gets a response from the listener; sometimes happy, sometimes sad, but in any case comforted.
I was very much under the influence of the earthquake and how many people died with no idea that this was their last day. That really makes me very sad, helpless and small. I generally think that most people are not thankful for every day. They take it for granted. I am sad about this, because I think every day is a present for us. Love is something that needs to take over the world; that would help.
After the concert people came to me and hugged and thanked me, telling me they had cried. I saw their faces and thought: yes, that is exactly what I want, to see their faces full of emotions. They felt something, experienced something, and we all created something spiritual and were standing together. That is how I see myself and that is what I want my concerts to be like, always: people leaving full of thoughts of a better life, of love and kindness.
Als Residenzkünstlerin der Schwetzinger SWR Festspiele präsentiert Antje Weithaas drei in Repertoire und Besetzung kontrastierende Programme: Als künstlerische Leiterin der Camerata Bern, als Kammermusikerin mit handverlesenen Gästen und im Solokonzert ist die Geigerin ab dem 3. Mai im Schwetzinger Schloss zu erleben....
Am 2. Mai steht im Sendesaal Bremen Musik von Charlotte Bray auf dem Programm. Bei dem Porträtkonzert bringen die Musikerinnen und Musiker des Amaryllis Quartetts und des Mariani Klavierquartetts sowie der Pianist Huw Watkins fünf Werke für verschiedene Besetzungen von Solo bis Quintett zu Gehör....
Gleich drei neue Werke präsentiert das GrauSchumacher Piano Duo bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik: Neben Vykintas Baltakas‘ Sandwriting für zwei Klaviere und Live-Elektronik heben sie am 28. April Johannes Maria StaudsIm Lichte II für zwei Klaviere aus der Taufe. Einen Tag später bringt das Klavierduo mit dem WDR Sinfonieorchester Köln Elena Mendozas Salón de espejos für zwei Klaviere, zwei Schlagzeuger und Orchester zur deutschen Erstaufführung....
Am 27. April kommt mit Tension ein neues Orchesterwerk von Vito Žuraj zur Uraufführung. Das Klangforum Wien bringt das Werk bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik unter der Leitung von Emilio Pomàrico zu Gehör. Am 7. Mai bestreitet das Ensemble dann unter Peter Rundel die österreichische Erstaufführung im Wiener Konzerthaus....
Bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik werden Ende April zwei neue Werke von Mark Andre erklingen: Jörg Widmann präsentiert an drei Tagen ...selig sind... für wandernden Klarinettisten und Flüstergalerie, und das Ensemble des WDR-Sinfonieorchesters bringt am 29. April mit dem Solisten Andreas Mildner ...hin... für Harfe und Kammerorchester zur Uraufführung. Daneben widmet das Festival Mark Andre ein Porträtkonzert....
… prägen den 1. Akt von Richard Wagners Walküre, der als konzertante Aufführung am 26., 27. und 28. April in Bochum zu erleben ist. Mit Elisabed Strid (Sieglinde), Stuart Skelton (Siegmund) und Dimitry Ivashchenko (Hunding) stehen den Bochumer Symphonikern unter ihrem Chefdirigenten Steven Sloane hochkarätige Solisten zur Seite....
Mit acht Konzerten sind Jan Caeyers und sein internationales Beethoven-Orchester Le Concert Olympique vom 17. bis zum 28. April in Konzertsälen in Belgien und Deutschland zu Gast, darunter die Berliner Philharmonie. Mit von der Partie für das Programm rund um Beethovens Eroica und das sogenannte Prometheus-Thema ist der ebenfalls als Beethoven-Experte ausgewiesene Pianist François-Frédéric Guy....
Am 15. April kommt Toshio Hosokawas Arabesque für Flöte, Viola und Harfe am New England Conservatory in Boston zur Uraufführung. Nach einer weiteren Aufführung bei der Philadelphia Chamber Music Society schlägt das Trio Tre Voci mit dem Werk einen Bogen über den Atlantik und bestreitet im Mai die europäische Erstaufführung an der Wigmore Hall in London....