Als Pionierin einer zeitgenössischen Lesart der Noh-Theater-Tradition wurde Ryoko Aoki Anfang November mit dem Creative Tradition Preis der Japan Arts Foundation ausgezeichnet. Die Noh-Darstellerin und -Sängerin, die in letzter Zeit unter anderem mit Toshio Hosokawas Futari Shizuka und Peter Eötvös‘ Secret Kiss auf internationalen Bühnen zu erleben war, mischt mit ihren Aufführungen eine Theaterkultur auf, die bisher weitgehend männlichen Darstellern vorbehalten war.
Mehr als 50 neue Werke hat sie bisher interpretiert; gut die Hälfte davon waren von ihr initiierte Kompositionsaufträge. Für unser Magazin sprach sie über ihren Weg zu dieser Kunst und über den Umgang mit kultureller Tradition in Japan und Europa.
Was hat Ihr Interesse am Noh-Theater geweckt?
Noh ist eine Form des klassischen japanischen Musiktheaters, die seit dem 14. Jahrhundert praktiziert wird. Die meisten Noh-Darsteller entstammen Familien, in denen die Noh-Tradition von Vater zu Sohn weitergegeben wird. Ich wurde nicht in solch eine Noh-Familie hineingeboren, sondern begann als Achtjährige mit dem Ballett. Gleichzeitig fragte ich mich, warum die Mädchen meiner Generation nur westliche Künste wie Klavierspiel und Ballett lernten. Heutzutage ist die westliche Kultur unter Japanern verbreiteter als unsere eigenen kulturellen Traditionen. Die meisten Japaner sind der Ansicht, dass japanische Traditionen nur wenigen Auserwählten vorbehalten sind, obwohl wir selbst Japaner sind. Eines Tages sah ich Noh in einer Fernsehsendung. Dies beeindruckte mich nachhaltig, und ich begann mit vierzehn Jahren mit dem Training in der Form der Kanze-Schule des Noh.
War es schwierig, in die traditionelle Männerwelt des Noh hereinzukommen?
Ich studierte an der Musikfakultät der Tokyo National University of the Arts mit dem Schwerpunkt Noh. Damals waren mir die Herausforderungen nicht bewusst, denen Frauen und diejenigen, die nicht einer Noh-Dynastie entstammen, sich stellen müssen um in die Noh-Community hineinzukommen. Doch ich stellte schnell fest, dass ich in meinem Studienjahrgang die einzige Frau inmitten von Männern war, die zudem meistens aus Noh-Familien stammten. Manchmal wurde ich gefragt: „Im Noh ist es schwierig für Frauen, die gleichen Dinge zu tun wie Männer. Wie schätzt Du Deine Aussichten ein?“ Erst da wurde mir die Schwierigkeit meiner Position innerhalb der Noh-Gemeinschaft klar.
Wie begann Ihre Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten?
Ich interessierte mich dafür, Neues zu entwickeln auf der Grundlage der Tradition, denn mir erscheint es logisch, dass sich Kunst immer auf der Basis von Traditionen weiterentwickelt. Darum hatte ich mich auch für ein Studium an der Tokyo National University of the Arts entschieden. Ich dachte, weil dort unzählige Künstler studieren, gäbe es auch unzählige Formen von Zusammenarbeit zwischen ihnen. Allerdings zeigte sich, dass wir schon aufgrund unseres engen Stundenplanes kaum Zeit hatten, uns außerhalb des Noh in irgendwelchen Projekten zu engagieren. Außerdem interessierten sich die meisten Noh-Studierenden nicht für andere Kunstformen oder kannten sie gar nicht. Das kommt daher, dass Noh-Darstellern immer eingetrichtert wird, der Erhalt der Traditionen sei die wichtigste Pflicht, und sie denken, dass Kollaborationen mit anderen Genres die Tradition zerstören. Zum Glück förderte meine Universität damals interdisziplinäre Zusammenarbeit. Mein Professor riet mir, an solch einem Projekt teilzunehmen, und ich begann, mit anderen Künstlern zu arbeiten.
Wie ist es, mit klassischen Künstlern zusammenzuarbeiten? Gibt es da Herausforderungen oder Überraschungen?
Ich arbeite mit Komponisten an neuen Musikstücken, weil ich mich mit der Frage beschäftige, wie ein modernes Noh-Theater aussehen kann. Zeami, der Gründer des Noh, schrieb in seiner ersten Abhandlung Fushikaden, in der die Ästhetik des Noh umrissen wird: „Es ist wichtig, nicht stehen zu bleiben“. Das bedeutet, dass Noh-Darsteller nicht statisch bleiben sollen, sie sollen immer offen für Neues sein. Es ist überliefert, dass Zeami selbst in seinen Aufführungen spontan auf Publikumsreaktionen einging. Davon scheint die heutige Noh-Welt sehr weit entfernt zu sein. In der europäischen Musikszene gibt es eine starke Tradition klassischer Musik, während gleichzeitig immer neue Musik komponiert wird. Außerdem werden ganz neue Versionen klassischer Opern oder Theaterstücke gezeigt, die von verschiedenen Regisseuren anders interpretiert werden. Ein Opernhaus ist für die Europäer kein Museum. In Japan existieren dagegen traditionelle Bühnenformen wie Noh, Kabuki und Bunraku, das Marionettentheater. Viele Menschen glauben, dass die Bewahrung dieser Traditionen das Wichtigste sei. Wir sollten sehr stolz auf diese Traditionen sein, aber leider haben wir selten die Gelegenheit, neue Werke auf der Basis dieser Traditionen zu zeigen, besonders aufgeführt von den traditionellen Künstlern selbst. Heutzutage haben viele Leute kein Interesse mehr an den traditionellen Aufführungen, nur alte Leute gehen hin. Darüber müssen wir nachdenken.
Gibt es historische Beispiele oder Vorbilder für genreübergreifende Projekte im Noh-Theater?
In den 1960er und 70er Jahren arbeitete Hisao Kanze, ein berühmter Noh-Darsteller, mit Künstlern anderer Genres zusammen, vor allem mit dem Theaterregisseur Tadashi Suzuki. Ich glaube, dass Noh einen großen Einfluss auf die Theaterszene hatte. Sowohl japanische als auch westliche Regisseure wurden von Noh inspiriert, darunter Peter Brook und Robert Wilson. Noh besteht allerdings sowohl aus der Dramaturgie als auch aus Musik. In den 60er Jahren arbeitete Hisao Kanze mit mehreren zeitgenössischen Komponisten zusammen, zum Beispiel Toru Takemitsu, Joji Yuasa und Toshi Ichiyanagi. Nach Hisao Kanzes Tod sind allerdings nur noch wenige neue Produktionen entstanden, und meistens beschränkte sich die Zusammenarbeit darauf, dass Noh-Darsteller zu zeitgenössischer Musik tanzten. Mein Noh-Lehrer lehrte mich allerdings, dass der Gesang sehr wichtig für Noh-Darsteller ist, sogar wichtiger als der Tanz. Ich versuche also, mich für den musikalischen Aspekt einzusetzen indem ich mich stärker auf den Gesang fokussiere. Uns so begann ich meine Zusammenarbeit mit Komponisten, die für meine Stimme schreiben.
November 2019
Übersetzung: Nina Rohlfs