„In Stromab wird das ganze Orchester in seiner schillernden Vielfalt wie in einem Boot den großen Fluss abwärts geschickt“, sagt Johannes Maria Staud
über sein neues Orchesterwerk, das in der Saison 2017/18 von drei
internationalen Spitzenorchestern aufgeführt wurde. Den Anfang machte das Royal Danish Orchestra unter
Leitung von Alexander Vedernikov, einige Wochen später folgte die
österreichische Erstaufführung durch die Wiener Symphoniker unter
Leitung von François-Xavier Roth. Im Januar 2018
schließlich wurde Stromab von Franz Welser-Möst in Cleveland zur
amerikanischen Erstaufführung gebracht, gefolgt von weiteren Konzerten
in den USA.
Anlässlich der bevorstehenden Uraufführung gab Johannes Maria Staud Auskunft über die fertige Partitur und ihren Bezug zu Algernon Blackwoods Kurzgeschichte The Willows, nach Ansicht des Komponisten „eine der schönsten Horrorstorys aller Zeiten“. Das Gespräch mit Dr. Frank Reinisch veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung des Verlags Breitkopf & Härtel.
Die berühmteste Flusskomposition, Smetanas Moldau, gilt als ein Musterbeispiel für Programmmusik, und dies vielleicht auch, weil dieses Werk Spannungen aufgreift, Natur und Geschichte thematisiert, also keinesfalls nur idyllisch daherkommt. Sie erteilen in Ihrem Werkkommentar hingegen der allzu konkreten Schilderung eine dezidierte Absage, sprechen dann aber davon, dass das Orchester „in seiner schillernden Vielfalt wie in einem Boot den großen Fluss abwärts geschickt“ wird. Wie konkret schimmert die Donau durch Ihre Partitur?
Mir schwebte eher die Abstraktion eines großen Stromes irgendwo im Zentrum Europas vor; eines Stromes, der seit alters her, im Frieden wie im Krieg, unzählige Kulturen und Sprachen von West bis Ost miteinander verbindet; eines Stromes, dessen Wildheit trotz aller menschlicher Eingriffe schlussendlich wohl immer unbändigbar bleiben wird. Die gedanklichen Assoziationen zu Smetana waren mir durchaus bewusst, aber schlussendlich nicht wirklich bedeutend für meinen Kompositionsprozess. Aber sogar Smetana ist mit seiner Moldau und dem ganzen Ma Vlást-Zyklus klanglich weit über die selbstauferlegten Regeln der damals in Mode gekommenen Programmmusik hinausgegangen. Dafür sind diese symphonischen Dichtungen wohl klanglich zu visionär, ihre kompositorischen Abstraktionen wohl zu reizvoll.
Das Werk hat mehrere Abschnitte, die mit äußerst plastischen Tempobezeichnungen versehen sind. Sie allein schon lassen das Bild eines Flusses entstehen, der streckenweise schwer zu befahren ist. Das Adjektiv „wild“ ist fast leitmotivisch verwendet, auch „zähflüssig“ spielt eine wichtige Rolle, die Verbindung „Von zähflüssiger Wildheit“ (Takt 40–46) wirkt dabei wie ein Oxymoron, und regelrecht gefährlich wiederum liest sich „Giftig“ (Takt 161–188). Aber ist damit überhaupt der Fluss gemeint oder nicht vielmehr das Orchester und seine Protagonisten, an erster Stelle der Dirigent?
Die Dramaturgie des Werkes – daher auch der Titel – steht sinnbildlich für eine Reise stromabwärts in einem kleinen Kanu, das den tobenden Wassermassen bisweilen fast hilflos ausgeliefert ist. Wenn Sie so wollen, ist das Orchester und sein Dirigent ein äußerst erfahrenes Kanu-Team, das gefährlich-brenzlige Situationen mit kreativer Verve und Geistesgegenwart meistert, und sich, als gäbe es kein Morgen, den großen Strom hinunterstürzt.
Stromab ist ein Auftragswerk von drei Orchestern aus Dänemark, Österreich und den USA, das in der Saison 2017/18 von drei verschiedene Dirigenten, darunter Franz Welser-Möst, mit dem Sie schon im Vorfeld in Kontakt waren, realisiert wird. Eine so breite und namhafte Rezeption erfährt ein neu komponiertes Werk selten. Was erwarten Sie von den drei Interpretationen, die ja jeweils auch mit einer intensiven Probenphase verbunden sein werden?
Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Orchestern und Dirigenten. Und ich bin schon gespannt, wie sich die Lesarten, die Interpretationszugänge voneinander unterscheiden werden. Auch wenn ich, wie immer, meine innere Klangvorstellung sehr genau zu notieren versuche, brauche ich doch Menschen, die sich in meine Klangwelt einzufühlen und dabei die Reise meinen imaginären Strom entlang mit individuellem Leben zu erfüllen vermögen. Es überrascht mich oft selbst, welche verborgenen Details in unterschiedlichen Interpretationen zum Glänzen gebracht werden.
Andererseits ist Stromab ein Werk, das in Verbindung mit der Oper Die Weiden steht, die im Dezember 2018 an der Wiener Staatsoper zur Uraufführung kommen wird. In den Weiden geht es um eine geheimnisvoll-tragische Flussreise eines Liebespaares, das der Welt abhandenkommt. Inwieweit hat Stromab mit der Opernpartitur, die derzeit entsteht, zu tun?
Stromab ist auf jeden Fall der Startpunkt für meine Oper, ein Brennpunkt, aus dem heraus sie sich entwickeln wird. Der große Strom, der ständig Anwesende in der Oper, steht im Orchesterwerk musikalisch im Mittelpunkt. Material aus dem Orchesterstück wird in der Oper wieder aufgegriffen, weiterentwickelt und in den kompositorischen Fleischwolf gesteckt. Daneben kommt in den Weiden natürlich noch eine Vielzahl anderer Ideen hinzu, die mit dem Material aus Stromab konkurrieren und in Kollision treten werden. Der Prolog der Oper etwa ist musikalisch etwas völlig anderes als Stromab, während das darauf folgende Vorspiel direkt auf das Orchesterwerk Bezug nehmen wird.
Also wäre ohne Opernauftrag Stromab so nicht entstanden?
Das weiß ich nicht. Stromab verdankt seine Hauptinspiration ja vor allem Algernon Blackwoods wunderbarer Short Story The Willows aus dem Jahr 1907, mit der sich die Oper, trotz Titelgleichheit, nur punktuell überschneiden wird. Gelesen hätte ich Blackwoods Geschichte ja sowieso – und inspiriert für eigenes Erfinden hätte sie mich auf alle Fälle – aber wer weiß, wie alles gekommen wäre ... Das ist schwer zu sagen.
Einen kurzen Blick auf Ihre täglich wachsende Opernpartitur dürften wir abschließend schon werfen. Der Prolog ist komponiert, und Lea singt beim Abschied von ihren Eltern: „Stromab, da geht alles leicht, so leicht.“ Diese vermeintliche Leichtigkeit wird sich, so viel sei verraten, als gefährlich erweisen, und ich glaube, dass Ihnen das Orchesterwerk Stromab alles andere als leicht von der Hand gegangen ist. Ein gutes Omen?
(lacht) Die schwierigste Frage zuletzt. Sagen wir so: ich hoffe es!
Interview: Dr. Frank Reinisch, Breitkopf & Härtel, 9/2017
Stromab (2016/17) für großes Orchester
Auftraggeber: The Royal Danish Orchestra; The Cleveland Orchestra, Franz
Welser Möst, Music Director; Carnegie Hall; Wiener Symphoniker, Wiener
Konzerthausgesellschaft, mit Unterstützung der Ernst von Siemens
Musikstiftung
Uraufführung
The Royal Danish Orchestra, Alexander Vedernikov
Kopenhagen, The Royal Danish Opera House, 22.9.2017