Ich und ich und ich. Mit hohem Preis gekauft mein Hass gehört mir. (Heiner Müller/Sophokles: Philoktet)
Philoktet, ein angesehener Krieger im Gefolge Odysseus‘, wird auf dem Weg zur Eroberung Trojas durch eine Verletzung zum Störfaktor im Heer. Seine Kameraden setzen ihn auf der einsamen Insel Lemnos aus. Nach zehn erfolglosen Jahren im Kampf um Troja erinnern sich die griechischen Krieger wieder an Philoktet und seine von Herakles geerbte „Wunderwaffe“. Philoktet, tief verletzt durch die Aussetzung, hatte sich jedoch geschworen, nie wieder für die Griechen zu kämpfen.
In seinem neuen Werk beschäftigt sich Samir Odeh-Tamimi mit der Herausbildung von Identität und Individualität im Spannungsfeld von Krieg, Politik und Gesellschaft. Inspiriert von der Tragödie des Sophokles sowie den Werken André Gides und Heiner Müllers, bringt der Komponist den Philoktet-Stoff, dessen Themenkomplex aktueller denn je erscheint, als musikalische Tragödie auf die Bühne. Der Einzelne, je nach Interessenlage isoliert oder benutzt, gerät aus dem Blick der Mächtigen beziehungsweise der Gesellschaft und damit auch dessen eigene Entwicklung und potenzielle Radikalisierung. Die Chronologie der Handlung sowie die Dialoge der von Sophokles übernommenen Figuren vereinen sich dabei in einen einzigen räumlichen, minimalistisch choreographischen Zustand und lassen so die Gleichzeitigkeit, das Aufeinanderprallen und die Unauflöslichkeit der verschiedenen Konflikte offenbar werden.
Zur Uraufführung gebracht wird das Werk vom Zafraan Ensemble und den Sängern der Neuen Vocalsolisten, mit denen der Komponist schon länger eine enge künstlerische Freundschaft pflegt. Nicht von ungefähr: Schon immer sind es die Stimmen, die Samir Odeh-Tamimi inspirieren. Nun also geht es um die verschiedenen Stimmen in einem selbst, verschiedene Sprachen, menschliche Zustände, Identität. Musikalisch möchte Odeh-Tamimi hier nichts weniger als den „Jammer der Menschheit“ hörbar machen. Stellvertretend dafür steht das Jammern des Philoktet, der nicht müde wird, sein Schicksal zu beklagen, der aber auch alle möglichen Gefühle und Zustände in sich trägt, die ein riesiges Konfliktpotenzial bergen: Gunst, Missgunst, Neid, Loyalität, Verrat, Liebe, Hass, Freiheit, Abhängigkeit.
Der Text von Sophokles wird dabei teils in der neugriechischen Übersetzung von Tasos Roussosl verwendet, teils vom Komponisten und der Librettistin Claudia Pérez Iñesta in einer Phantasiesprache verfremdet, einer Art Amalgam semitischer Sprachen wie Arabisch, Hebräisch, Altaramäisch und Amharisch. Die klangliche Spurensuche deckt Sprachverbindungen auch zu den modernen Sprachen auf, geht deren Wurzeln nach und macht somit deutlich, wie komplex Identität eigentlich zu denken ist und wie viele – eben auch sprachliche – Schichten übereinander liegen. Denkanstoß für die Librettistin und den Komponisten waren hier auch Amin Maaloufs Mörderische Identitäten (Suhrkamp 2000): „Identität lässt sich nicht aufteilen, weder halbieren noch dritteln oder in Abschnitte zergliedern. ... Wer immer indes eine komplexere Identität für sich beansprucht, gerät ins Abseits. ... Und eben deshalb ist ihr Dilemma von so großer Tragweite: Wenn sich diese Menschen nicht zu ihren vielfältigen Zugehörigkeiten bekennen dürfen, wenn man unablässig von ihnen fordert, sich für eine Seite zu entscheiden, sie dazu drängt, sich in ihre angestammte Gemeinschaft einzugliedern, dann müssen wir uns zu Recht Sorgen machen über den Zustand der Welt. (...) Auf diese Weise ‚erzeugt‘ man Mörder!“
Text: Clara Rempe
Der Deutschlandfunk berichtete über die Uraufführung: deutschlandfunk.de
2.2.2023, 19.00 Uhr Eclat Festival, Theaterhaus Stuttgart
Philoktet Musiktheater nach den Dramen von Sophokles, Heiner Müller und André Gide (2022) UA
Komposition
und Bühnenkonzept: Samir Odeh-Tamimi; Szenische Beratung: Rosabel Huguet;
Libretto: Claudia Pérez Iñesta; Klangregie und Elektronik: Anrei Cuco
Neue Vocalsolisten
Zafraan Ensemble