Am 31. Mai 2015 hielt Toshio Hosokawa auf Einladung des Mozartfestes Würzburg einen Vortrag im Rahmen des MozartLabors, einem dreitägigen Symposion für Wissenschaftler, Komponisten, Musiker und Musikhörer. Die Aufgabe, seine spezifische Perspektive auf Mozarts Musik zu beschreiben, nutzte er für eine Reflexion über seine eigene kulturelle und musikalische Herkunft und über den Umgang mit Trauer und Vergänglichkeit in der westlichen Musik und in den japanischen Künsten.
Sehr geehrte Damen und Herren,
für Ihre freundliche Einladung zu diesem wunderbaren Mozart-Festival möchte ich Ihnen meinen herzlichen Dank aussprechen.
Als ich die kenntnisreichen und einsichtsvollen Kommentare meines lieben Freundes und Kollegen Jörg Widmann hörte, der beim letzten Mozart-Labor sprach, dachte ich, es sei vielleicht ein Irrtum, dass diesmal eine Einladung an mich erging. Allein schon an der körperlich-gestischen Präsenz von Jörg konnte man ja deutlich spüren, wie sehr er in der Tradition der europäischen Musik lebt und verwurzelt ist; gleichsam aus dem Inneren dieser Tradition heraus schafft er seine eigene, neue Musik.
Ich hingegen bin in Japan aufgewachsen, in einer Familie in Hiroshima, in der es kaum Berührung mit europäischer Musik gab. Als Kind habe ich dann angefangen, Klavierunterricht zu nehmen, doch dieses Lernen gelangte kaum über Oberflächenhaftes hinaus: Was ich im Unterricht erfuhr und erlernte, war wohl etwas grundsätzlich Anderes als das, was man in Europa lernen konnte, in einer Welt, in der diese Musik ihre Wurzeln hat. Darüber hinaus war meine Familie von den traditionellen japanischen Künsten geprägt – dem Ikebana, der Tee-Zeremonie sowie auch von der überlieferten japanischen Musik. Doch auch in einer solchen Familie hat die westliche Musik in den 1960er Jahren allmählich Einzug gehalten. Die Musik, mit der japanische Kinder an der Schule in Kontakt kamen, war nun fast ausschließlich die europäische, und sie erfuhren kaum mehr etwas von der traditionellen japanischen Musik. Damals in meiner Jugend war für mich die überlieferte japanische Musik, die mein Großvater und meine Mutter so geliebt haben, nichts anderes als fade und eintönig; viel mehr war ich vom westlichen Komponieren fasziniert und beeindruckt, vor allem von Beethoven, Mozart und Schubert, später auch von der europäischen Moderne eines Strawinsky, Bartok oder Debussy. In ihren Werken spürte ich etwas erregend Gegenwärtiges, Neues und Kraftvolles.
Es war gegen Ende der 1970er Jahre in Berlin, während meines dortigen Studiums, als ich die traditionelle japanische Musik wiederentdeckt habe. Damals veranstaltete man in Berlin ein Festival, bei dem einerseits Musik verschiedener Völker und Kulturen, andererseits moderne Musik vorgestellt wurde, und ich habe dort zum ersten Mal die traditionelle japanische Musik als „Musik“ gehört, angerührt von der Eigentümlichkeit und Schönheit dieser Klangwelt. Als japanischer Auslandsstudent war ich meiner Heimat zum ersten Mal fern, und erst aus solcher räumlichen Distanz heraus konnte ich das spezifisch Japanische wirklich wahrnehmen. Überdies gab es wohl einen bestimmten Grund, warum ich die japanische traditionelle Musik nun mit anderen Ohren wahrnehmen konnte, nämlich dadurch, dass ich die zeitgenössische westliche Musik kennengelernt hatte und somit gleichzeitig eine Art und Weise, wie man Musik hören soll, die anders ist als die europäische durmolltonale Musik aus dem 18. und 19. Jahrhundert. In der westlichen Musik des 20. Jahrhunderts wurde es erforderlich, nicht erst harmonische Beziehungen zwischen Tönen wahrzunehmen, sondern schon die Existenz der Töne an sich – als einen Eigenwert – zu erfassen und ein Gehör für die in ihnen wirkende Kraft zu entwickeln.
Sie, verehrte Hörer, wissen nun, dass ich von der Tradition der westlichen Musik weit entfernt bin, aus eben dieser Perspektive die westliche Musik wahrnehme und wertschätze, zugleich jedoch auf dem Grund der Beheimatung in der überkommenen japanischen Musik meine eigene musikalische Sprache ausbilde und so eine neue Musik zu schaffen versuche. So mag es mir – gerade in der Erfahrung des Anderen – vielleicht gelungen sein, die Potentiale einer nicht-westlichen Musik zu entdecken.
Soweit zu meinem Erfahrungshintergrund. Ich bin mir nicht sicher, was ich mit einem solchen Hintergrund Ihnen heute überhaupt sagen kann, Ihnen, die sie die Musik Mozarts lieben und erforschen; aber ich möchte doch den Versuch unternehmen, Ihnen zu erzählen, wie ich Mozarts Musik höre und was ich an ihr liebe.
In Japan gibt es bekanntlich die Blumenkunst „Ikebana“. Da gestaltet man Blumen in einem bestimmten Raum des Hauses und stellt sie aus, doch entfaltet sich darin zugleich eine spezifische Weltsicht, die sich abhebt von den Blumenarrangements in Europa. Auch während dieses Mozart-Festivals schmücken viele Blumen die Räume. Ich glaube, das tut man, um die Räume prächtig erscheinen zu lassen und gleichzeitig die Schönheit der Natur der menschlichen Welt – als einen Schmuck – hinzuzufügen. Auch in Japan sieht man oft solche Blumendekorationen. Aber die eigentliche, traditionelle Kunst des Ikebana ist wesentlich anders als solche Blumenarrangements.
Im Ikebana wird die Blume als etwas aufgefasst, das von den Feldern abgeschnitten ist und hineingenommen in den Raum, in dem die Menschen leben. Diese Blumen atmeten in der Erde, aber ihr ‚Leben’ ist nun abgeschnitten, im Hintergrund ist der Tod schon da. Und indem man den letzten Schimmer ihres Lebens im Raum spürbar werden lässt, tritt der Wert des Lebens – das Wirken- und Standhaltenkönnen – um so deutlicher hervor. Diese Blumen bilden keinen üppigen Strauß, man bringt vielmehr nur eine Blume zur Erscheinung oder steckt ein paar von ihnen zusammen. Dabei ist es sehr wichtig, wo man diese Blumen placiert: Der Hintergrund wird zum wesentlichen Moment der Gestaltung.
Wir Japaner empfinden die Flüchtigkeit des Vergehenden als schön. Daher lieben wir „Sakura“, die Kirschblüte im Frühling. Diese Kirschsorte hat keine essbaren Früchte. Und die Blütezeit ist ganz kurz. Längstens vier bis fünf Tage blühen sie, dann fallen die Blüten. Wir empfinden gerade diesen Vorgang des Herabfallens als etwas Schönes. Denn auch unser Leben währt nicht ewig; es blüht kurz, um dann zu vergehen, und gerade aus einem solchen Bewusstsein der Flüchtigkeit heraus empfinden wir es als kostbar.
Ich glaube, es gibt zwei verschiedene Arten des Kunstschönen: zum einen die Kunst, die sich gegen die Vergänglichkeit und gegen das Verschwinden wehrt, zum anderen diejenige, die sich einlässt auf die verschwindende Zeit und im Einklang steht mit dem Vergänglichen. In Europa scheinen viele Künste aus einem Widerstand gegen das Vergehen zu erwachsen. Dies entspricht der christlichen Vorstellung, dass von Gott das ewige Leben gegeben ist. So scheint mir zum Beispiel, Bruckners großartige Symphonien wollen in ihrer „tönenden Architektur“ schon etwas wie Ewigkeit ahnen lassen.
Was aber ist ein Ton? Er entsteht und vergeht. Er wird aus dem Schweigen geboren und sinkt ins Schweigen zurück. Unsere traditionelle Musik Japans setzt solche Vergänglichkeit des Tons, das ihm innewohnende Vergehen voraus. Wir hören die einzelnen Töne und nehmen zugleich mit Wertschätzung den Prozess wahr, wie sie geboren werden und vergehen, sozusagen eine tönend in sich belebte Landschaft des Werdens. Wesentliche Bedeutung hat hierbei stets das Schweigen im Hintergrund des Erklingenden.
Wenn ich komponiere, stelle ich mir meine Musik als eine Kalligraphie in Raum und Zeit vor. Bei der asiatischen Kalligraphie malt man mit dem Pinsel auf einer weißen Leinwand Linien, und dabei ist die weiße Fläche, sozusagen die Leere auf der Leinwand genauso wichtig wie die Linien selbst. Einst habe ich einen bedeutenden Zen-Altmeister getroffen, der jeden Tag Kalligraphien gestaltete. Einmal hat er vor meinen Augen auf einer großen weißen Leinwand das chinesische Schriftzeichen „Do“ (der Weg) gemalt. Da sagte der Altmeister: „Die Kalligraphie entsteht nicht so, dass man gleich auf dem Papier anfängt zu malen. Stattdessen bestimmt man einen Punkt im leeren Raum und von diesem Punkt aus beginnt man zu malen und kehrt schließlich zu diesem Punkt zurück. Diese kreisend-lineare Bewegung ist die Kalligraphie.“ Diese Idee hat auf meine Musik grundlegenden Einfluss ausgeübt.
Auch die musikalische Bewegung beginnt schon vor dem Erklingen und Gehörtwerden von notierten Zeichen. Vielmehr verweisen die Töne, die wie hören, auf eine unhörbare tiefere Welt.
In der traditionellen japanischen Dichtkunst gibt es den Ausdruck „mononoaware“ (freiübersetzt: wehmütiges Gefühl für die Vergänglichkeit der Dinge). Hierin liegt nicht nur eine Traurigkeit beschlossen, sondern auch eine Haltung, das Vergängliche zu schätzen. In der Tiefe des Seins gibt es eine bodenlose Dunkelheit, aber zugleich gibt es eine Haltung, diese endliche, zart-zerbrechliche Existenz mit Liebe und Wertschätzung zu betrachten. In der Dunkelheit gibt es zugleich eine Heiterkeit der „Resignation“.
Vielleicht ist es meine subjektive Wahrnehmung, aber ich höre in der wunderbaren Musik von Mozart dieses „mononoaware“; eine Trauer und tiefe Resignation gegenüber dem vergehenden Leben, gegenüber der Zeit. Es ist eine Haltung, die über das Ich hinausweist, eine Haltung, nicht an Vorstellungen von Ewigkeit festzuhalten. In der musikalischen Gestalt des Klarinettenkonzerts oder des Klarinettenquintetts ist exemplarisch die Liebe an das vergehende Leben zu spüren. Die „Trauer“ in dieser Musik ist eine „heitere“, ist wie ein transparenter, klarer Himmel an einem Herbsttag.
Mozarts Musik ist, nach meinem Gespür, nicht durch ein „Ego“ hervorgebracht; vielmehr erscheint sie, als sei sie aus einer anderen, jenseitigen Sphäre gekommen: gleichsam nur hörbar gemacht durch das – ihr nachlauschende – Medium Mozart. Ich liebe auch Beethovens großartige Musik, aber mir drängt sich immer der Eindruck auf, dass ein starkes „Ich“ im Kampf gegen die Vergänglichkeit diese Musik geschaffen habe. Im Vergleich dazu empfinde ich, dass der Genius Mozart vernommen hat, wie Töne natürlich fließen; dies hat er in schönster Weise auf dem Notenblatt abgebildet.
Vielleicht ist das meine subjektive Wahrnehmung. Ich glaube jedoch, in wirklich herausragenden Kunstäußerungen gibt es eine Art Resonanz über die Grenzen zwischen der westlichen und östlichen Welt hinaus. Mir erscheint Mozarts Musik als eine solche transzendierende, entgrenzende Kunst.
Heute habe ich zu sagen versucht, wie ich vom Standpunkt der japanischen Tradition her die Musik Mozarts hörend wahrnehme und empfinde.
Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Aufmerksamkeit.
Ihr Toshio Hosokawa